Kolumne „Familiensache“ Das große Schweigen

Martin Gerstner

Wie bringt man den Sohn zum Reden? Am besten gar nicht, meint Martin Gerstner. Es gibt halt Phasen im Leben, da ist Schweigen Gold.

 
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Jungs in der Pubertät sind manchmal schwer zu verstehen. Foto: imago images/Cavan Images

Stuttgart - Mein Sohn scheut derzeit die direkte Kommunikation. Morgens entlässt die Kapuze seines Hoodies meist nur einige Laut-Fragmente, die zu entschlüsseln mir aber Zeit und Konzentration fehlen. Abgesehen davon, dass ich morgens auch kein Kommunikationswunder bin, sind wir damit nicht allein. Der leider verstorbene Kinderpsychologe Remo Largo sagte in einem Interview, Teenager erzählten meistens nicht, was sie beschäftigt oder gar welche Schwierigkeiten sie haben. Das sei Teil des Ablösungsprozesses aus dem Elternhaus.

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Das leuchtet mir ein, dennoch erfasst mich oft Mitleid, wenn ich beobachte, wie viel Kraft es meinen Sohn kostet, den sogenannten Sprechapparat zum Schwingen zu bringen. Medizinisch ausgedrückt ist es ja so: Wer spricht, etwas sagen will, muss in der Lage sein, die Spannungsverhältnisse seines Körpers bewusst kontrollieren und verändern zu können. Und weiter: „Artikulatorische und stimmliche Fehlleistungen treten auf, wenn es zu einem erhöhten Kraftaufwand oder einer Unterspannung beim Sprechakt kommt.“

Genug gequatscht

Männliche Jugendliche wirken in gewissen Phasen ihres Heranwachsens tatsächlich chronisch unterspannt. Mitunter öffnet sich zwar der Mund, der Brustkorb füllt sich mit Luft, die Augen weiten sich geringfügig und der ganze Organismus verlässt den gewohnten Zustand eines in der sonnendurchglühten Karawanserei dösenden arabischen Gewürzhändlers. Doch dann schaltet sich das Gehirn ein und der Impuls zur Kommunikation erlischt. Ein begonnener Satz bleibt unvollendet, wird praktisch abgewürgt – als sei klar, dass in dieser Welt schon mehr als genug Worte gewechselt, zu viel Wörter und Themen benannt, analysiert, kommentiert, behauptet und herausgebrüllt wurden. Hinter der Sprachermattung versteckt sich also möglicherweise ein großes, noch nicht hinreichend erfasstes Weltwissen um die Vergeblichkeit aller sprachlichen Tänze, syntaktischer Verrenkungen und grammatikalischer Finessen. Der Sache müsste man mal genauer nachgehen.

Auf der Strecke bleibt die Stimme

Allerdings gibt es natürlich Dinge, über die zu schreien und zu reden es sich lohnt. Auch für meinen Sohn. Doofe Lehrer eher nicht, Musik: na ja. Fußball allerdings schon. Während der Europameisterschaft schaute er sich einige Spiele der Deutschen mit seinen Freunden an – bei uns zuhause, womit klar war, dass der Rest der Familie Hausverbot hat. Zurück blieben leere Sprite-Flaschen und Chipsdosen. Auf der Strecke blieb auch vorübergehend das fein abgestimmte Zusammenspiel zwischen Atmung, Stimmlippen, Nerven und Muskeln im Kehlkopf, sprich: das Kind war nach 90 Minuten, in denen offenbar jede Sekunde des Spielgeschehens wortgewaltig kommentiert wurde, komplett heiser. Deshalb ist es für alle Eltern pubertierender Kinder gut zu wissen, dass die überwiegende Zahl der Jugendlichen sprechen kann, ja es manchmal sogar tut. Nur halt meistens, wenn die Eltern gerade nicht in der Nähe sind.

Martin Gerstner begleitet die Schulkarrieren seiner beiden Kinder mit Interesse und Ehrfurcht. Ansonsten ist der StZ-Redakteur seinen Kindern oft peinlich und erfüllt damit die vorgesehene Rolle als Vater. Den Kampf gegen die Jogginghose seines Sohns hat er übrigens verloren.