Das kennen wir doch alle: „'s ist mal bei mir so Sitte ...“, diesen Ohrwurm aus der „Fledermaus“. Was aber ist das, die gute Sitte? Und, im Umkehrschluss, was die Sittenlosigkeit? Lassen wir an dieser Stelle einmal die theoretischen Betrachtungen von Religion und Philosophie außen vor, kümmern wir uns auch nicht um die diversen fleischlichen Exzesse – schauen wir uns einfach einmal an, was in Politik und Wirtschaft derzeit ganz handfest so passiert. Hat das, was man den „Heuschrecken“ vorwirft, noch etwas mit Anstand und Sitte zu tun? Wo beginnt das Unsittliche bei Stundenlöhnen: unter 4,50 Euro nach Vizekanzler Münteferings Berechnung; unter 7,50 Euro nach Auffassung von DGB-Chef Sommer; oder im freien Spiel der Marktkräfte nach CDU-Ansicht? Wir rätseln, zumal uns Altmeister Goethe ins Stammbuch schreibt: „Dich betrügt der Staatsmann, der Pfaffe, der Lehrer der Sitten.“ Mindestlöhne also hier, Höchstlöhne aber auf der anderen Straßenseite: Die Einkommensschere in Deutschland ist in den vergangenen Jahren im internationalen Vergleich überproportional auseinandergegangen. Und der Boss der Bosse, Josef Ackermann von der Deutschen Bank, hat im vergangenen Jahr 13,2 Millionen Euro erhalten. (Ob er sie verdient hat, ist eine andere Sache.) Ist das mit den sittlichen Vorstellungen „aller billig und gerecht denkenden Menschen“ (Juristen-Jargon) vereinbar? Ist es sittsam, satte Gewinne zu machen – wie in vielen deutschen Unternehmen – und gleichzeitig die Belegschaft zu stutzen, die Arbeitszeit zu verlängern und die Bezüge der Mitarbeiter zu reduzieren? Auch hier sind gewisse Zweifel angebracht. Einigen könnte man sich vielleicht über den Sittenverfall im Siemens-Unternehmen. Dort hat der Skandal über Untreue und Bestechung inzwischen eine Größenordnung erreicht, die selbst Peter Hartz, diesen Erzschelm von VW, vor Neid erblassen lässt. Doch auch hier sollten wir vorsichtig sein. Die großmütigen Gerichtsurteile gegen Ackermann und Esser vor einigen Monaten belegen, was schon Angelus Silesius wusste: „Der eine lacht, der andre weint, / Gar ungleich sind die Sitten.“ Womit wir wieder bei den Mindestlöhnen wären.