Jahrhundert-Kunst 100 irre Zukunftsvisionen für die Stadt

Anica Trommer

Der Zella-Mehliser, der 2052 den leckersten Apfelkuchen backt, bekommt einen Pokal. 2068 gibt es ihn für den Einsatz zum Schutz der Demokratie und 2120 erhält der Erschaffer eines zauberhaften Moments einen Preis: Es ist ein 100-jähriges Kunstprojekt irrer Studenten für und mit Zella-Mehlis

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Zella-Mehlis - Wer kann schon sagen, was in 100 Jahren sein wird. Die Projektgruppe des Instituts für regionale Realitätsexperimente (kurz Irre) der Bauhaus-Universität Weimar kann es! In 100 Jahren wird es eine Preisverleihung geben. Der Zella-Mehliser, der 2120 einen zauberhaften Moment erschaffen und die Stadt hat vergessen lassen, was war und was ist, erhält einen Pokal. Und der ist auch schon fertig. Es ist ein Glitzerstern, verziert mit Perlen. Ein Zauberstab? Natascha Rossi hat ihn gefertigt und ihr Werk „Mein Wunsch“ genannt.

Auch in den 99 Jahren vorher werden Pokalübergaben stattfinden. Jedes Jahr eine. Dafür haben die kreativen Köpfe um Jana Gunstheimer, Professorin für Experimentelle Malerei und Zeichnung an der Fakultät Kunst und Gestaltung der Weimarer Bauhaus-Uni gesorgt. Gemeinsam mit ihren Studenten, mit Absolventen und anderen Künstlern hat sie überlegt, wie es wäre, wenn man jeden Bürger der Stadt auszeichnen würde – für Leistungen oder Eigenschaften, die jetzt oder in der Zukunft relevant sind. Und so entwarfen die Künstler Visionen und 100 Zukünfte für die Stadt und gestalteten daraus Pokale.

Einer ist ein leeres Würstchen-Glas, gefüllt mit einer Papierrolle. Er geht 2100 „an eine Person, die ängstlich ist, viele Sachen ein bisschen konnte und dann wieder verworfen hat und trotzdem einen großen Drang verspürt, auf der Bühne zu stehen. Sie sollte in der Lage sein, sich ein Glas Rote-Bete-Saft über den Kopf zu schütten“, lautet die Bedingung, an die die Pokalübergabe geknüpft ist. Irre eben!

Galerist Frank Rothämel ist begeistert von dem Projekt. „Wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt einen Pokal bekäme, der schon 1921 gefertigt wurde. Das wäre Wahnsinn, wirklich irre“, sagt er. Fasziniert sei er auch davon, wie tief die Künstler eingetaucht seien in die Stadtgesellschaft und wie sie sich den Themen, die sich meist um Nachhaltigkeit, Klimaschutz oder Gerechtigkeit drehten.

Ihren Glauben an die nächsten 100 Jahre beeindruckt auch Bürgermeister Richard Rossel. Erst 2019 habe Zella-Mehlis zurückgeblickt auf die vergangenen 100 Jahre und gesehen, wie sich die Menschen bis heute verändert haben. Mit dem Projekt würden die Bürger nun ermutigt, sich damit zu befassen, was sie sich für die Zukunft wünschen. Denn: Wer kann schon sagen, was in 100 Jahren sein wird.

Der erste von 100 Pokalen ist nun übergeben worden: Der Pokal „Im Ernst“, geschaffen von Julius Nennewitz und Carina Heidl, wird an diejenige Person oder Organisation vergeben, die im Jahr 2020 die größte Anzahl an mehrjährigen Organismen gepflanzt hat, wobei eine außerordentliche Artenvielfalt anzustreben ist. Der Pokal honoriert das größte Potenzial, Kohlenstoff aus der Atmosphäre auf der Erde zu fixieren, und ehrt jene Person oder Organisation in ihrem Engagement. Die Verleihung des Pokals findet an dem Ort statt, an dem besagte Organismen gepflanzt worden sind. Der Pokalaspirant und das Vergabekomitee sowie die Zuschauer erklären sich bereit, ihre Anreise zum Ort der Vergabe CO2-neutral zu gestalten. Die Zeremonie der Vergabe sieht vor, dass alle Anwesenden zur Überreichung des Pokals gemeinsam ein Lied singen, welches die Organismen in ihrem Wachstum bestärkt. Dieses Lied wird dabei auf einem Holzinstrument begleitet, so die Bedingungen, die Michael Bauckmann fast erfüllt hat.

Sobald etwas Wurzeln schlagen kann, pflanzt es Michael Bauckmann ein, sagt Laudatorin Beate Zimmermann von der Zella-Mehliser Naturschutzjugend (Naju). Egal ob es Eicheln oder Bucheckern seien: Michael Bauckmann sorgt dafür, dass die schützend zu Bäumen heranwachsen können. Seit Jahren kennt sie den Preisträger. 2018 waren sie gemeinsam an der Havel, um Weidenstecklinge in die Erde zu bringen. „Wir nutzen solche Aktionen auch, um Ausflüge zu machen und die Umgebung zu erkunden. Aber Michael Bauckmann war nicht zu bremsen. Er hätte am liebsten jeden Tag gepflanzt“, schildert Beate Zimmermann. Dort habe sie ihn auch beim Sammeln herabgefallener Eicheln beobachtet. Er habe sie dann auf einer Tischtennisplatte ausgebreitet, um zu sehen, welche Frucht bereits einen Trieb hervorgebracht hat. Schließlich nahm er sie mit nach Zella-Mehlis und zog aus den Eicheln junge Bäumchen.

Beate Zimmermann erinnert sich an eine andere Begebenheit. Auf der Erbachswiese sollten junge Buchen abgeschnitten werden, um die Freifläche als Lebensraum zu erhalten. Auch Michael Bauckman habe mit der Familie teilnehmen wollen. Als er erfuhr, dass die Bäumchen aber nicht ausgegraben und versetzt, sondern einfach abgeschnitten werden sollten, sei er wieder gegangen. „Er bleibt seinen Prinzipien treu“, so die Naju-Chefin.

Rund 140 Bäume – Fichte, Ahorn, Walnuss, Buche, Eiche und Kastanie sowie einige Obstsorten – hat Michael Bauckman bisher um Zella-Mehlis gepflanzt. Bisher mehr oder weniger heimlich. „Ich habe meistens am Ruppberg gepflanzt, aber durch den Holzeinschlag sind viele Stecklinge zerstört worden“, erzählt der Preisträger. Inzwischen darf er ganz offiziell am Zella-Mehliser Hosenlatz für eine bunte Ansammlung verschiedener Baumarten sorgen.

•Die 100 Pokale sind bis Sonntag, 19. September, in der Galerie im Bürgerhaus zu sehen. Zur Finissage wird der Pokal für das Jahr 2103 versiegelt und alle 99 verbliebenen Kunstwerke archiviert.

Bilder