Jahrestag einer Rede: „Das deutsche Volk hat den Staat zum Götzen gemacht“

  Foto: dpa/Michael Kappeler

Vor genau 75 Jahren hat Konrad Adenauer die Rolle von Staat und Bürgern in einer Rede beschrieben. Sie liest sich in der Corona-Pandemie erstaunlich aktuell.

 
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Suhl - Seit dem 15. September 1949 wird die Bundesregierung von einem Bundeskanzler geführt. Mehr als ein halbes Jahrhundert gehören die Regierungschefs der CDU an, die SPD kommt bisher auf 20 Jahre und drei Monate Kanzlerzeit, die FDP auf neun Tage. Die Christdemokraten haben dieses Land also geprägt wie keine andere politische Kraft. Mit Konrad Adenauer beginnt die Reihe.

Vor 75 Jahren – am 24. März 1946 – präsentiert er in der Aula der Universität Köln seine politischen Grundsätze in seiner bedeutendsten programmatischen Rede. Sie beschreibt das Verhältnis der Bürger zum Staat. Nach einem Jahr Einschränkungen der Grundrechte in der Corona-Pandemie lohnt sich ein Blick zurück. Adenauer fragt ein knappes Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg, warum die Deutschen so abgestützt sind. Die Antwort findet er lange vor dem Nationalsozialismus.

„Das deutsche Volk krankt seit vielen Jahrzehnten in allen seinen Schichten an einer falschen Auffassung vom Staat, von der Macht, von der Stellung der Einzelperson. Es hat den Staat zum Götzen gemacht und auf den Altar erhoben. Die Einzelperson, ihre Würde und ihren Wert hat es diesem Götzen geopfert. Die Überzeugung von der Staatsomnipotenz, von dem Vorrang des Staates und der im Staat gesammelten Macht vor allen anderen, den dauernden, den ewigen Gütern der Menschheit, ist in zwei Schüben in Deutschland zur Herrschaft gelangt“, erklärt Adenauer.

Das göttliche Wesen

Mit der romantischen Auffassung des Staates als der verkörperten Vernunft sei er im Bewusstsein des Volkes zu einem fast göttlichen Wesen geworden. Mit der Überhöhung des Staates sei zwangsläufig ein Absinken in der Bewertung der Einzelperson verbunden. „Nach der Gründung des Kaiserreichs ... wandelte sich der Staat aus seinem ursprünglich lebendig gefügten Wesen mehr und mehr in eine souveräne Maschine.“ Adenauer kritisiert den Materialismus, der zu weiteren Überhöhung des Staats- und Machtbegriffs, zur Minderbewertung der ethischen Werte und der Würde des Einzelnen geführt habe.

Er umreißt das Programm seiner Partei, nach dem „die Person dem Dasein und dem Range nach vor dem Staat“ steht. Das ganze Volk solle zu Verantwortungsbewusstsein und zu Selbstständigkeit erzogen werden. „Wir wollen Erziehung, aber nicht zu der Bereitwilligkeit, sich kontrollieren und führen zu lassen, sondern zu dem Willen und der Fähigkeit, sich als freier Mensch verantwortungsbewusst in das Ganze einzuordnen“, so Adenauer.

Zum Verhältnis zwischen Einzelperson und Staat erklärt er: „Der Staat besitzt kein schrankenloses Recht, seine Macht findet ihre Grenze an der Würde und den unveräußerlichen Rechten der Person.“ Demokratie müsse diese achten im staatlichen, im wirtschaftlichen und kulturellen Leben. „Wer wirklich demokratisch denkt, muss sich immer leiten lassen von der Achtung vor dem anderen, vor seinem ehrlichen Wollen und Streben.“

Der Staat solle eine auf Recht und Freiheit ruhende Schicksalsgemeinschaft verantwortlicher Personen sein, die die verschiedenen Interessen, Weltanschauungen und Meinungen zusammenfasst, sagt Adenauer. Drei Jahre später wird er Kanzler und wird es 14 Jahre bleiben. Die Deutschen sind seit damals einen weiten Weg gegangen. Mit den Ostdeutschen kommt 1990 noch ein staatlicher Macht gegenüber eher aufsässiges Element dazu.

Freiheit und Untertanen

Trotzdem erwarten die Bürger heute viel von ihrem Staat. Das hat Rückwirkungen: Seit zwölf Jahren wächst er wieder. Jeder zehnte Beschäftigte ist im öffentlichen Dienst angestellt. Er regelt auch immer mehr: Allein in der zu Ende gehenden Legislaturperiode wurden 846 Gesetzesvorhaben in den Bundestag eingebracht, mehr als die Hälfte von der Regierung. Die Staatsquote liegt vor Corona bei 45 Prozent, im vergangenen Jahr hat sie 55 Prozent erreicht: Rund jeder zweite in Deutschland erwirtschaftete Euro rinnt also durch die Finger von Staatsbediensteten.

In der Corona-Pandemie hat die Regierung die Grundrechte so umfassend und so lange eingeschränkt, wie noch nie seit Gründung der Bundesrepublik. Der Staat unter CDU-Kanzlerin Angela Merkel gibt diese Einschränkungen nur zaghaft wieder auf und lässt früher übliche Freiheiten als neue Gnadenrechte erscheinen, wie sich etwa in der Formulierung „Privilegien für Geimpfte“ zeigt.

„In der Bewusstseinslage der politischen Akteure und Teilen der Bevölkerung scheint gelegentlich in Vergessenheit zu geraten, dass die Menschen dieses Landes freie Bürger sind. Sie verfügen über unveräußerliche und unentziehbare Freiheitsrechte, sie sind keine Untertanen!“, kritisiert der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier vor wenigen Tagen in einem Interview. Es wäre zu begrüßen, wenn jeder Bürger sich des Wertes der Freiheit, immer verbunden mit Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen, dem Anderen und auch gegenüber sich selbst, bewusst wäre. „Seit der Zeit der Aufklärung wurde die Verfassungsstaatlichkeit in Europa mühsam erkämpft. wir sollten sie nicht zugunsten eines paternalistischen Fürsorgestaates aufgeben“, meint Papier.

Auch nach 75 Jahren ist das Ringen um Bürgerrechte und Staatsmacht nicht beendet.

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