Ebern - Kann ein Buch noch persönlicher sein? Mit der Auswahl aus rund tausend Briefen seiner Eltern gibt der pensionierte Lehrer und Autor Bernhard Gehringer nicht nur einen authentischen Einblick in die Zeit des Nationalsozialismus und dessen Alltag in einer fränkischen Kleinstadt, sondern vor allem einen in seine eigene Familie.

"Die verschnürten Briefe", so der Titel des Buches, aus dem Gehring vor wenigen Tagen in Ebern erst Gymnasiasten und am Abend auf Einladung der "Leseinsel" interessierten Lesern gemeinsam mit Lena Hagel in szenischer Lesung vortrug, waren ein Zufallsfund in der Wohnung seiner verstorbenen Eltern. In über tausend handschriftlich verfassten Briefen zeigte sich für den gebürtigen Rothenburger darin die Gedankenwelt seiner Eltern, die als junges Paar völlig aufgingen in der Geisteswelt des Nationalsozialismus. Die literarische Aufarbeitung der Briefe war nicht die erste Aufarbeitung, die Bernhard Gehringer zu bewältigen hatte. 1948 in Rothenburg geboren, war ihm "schon vieles bewusst", aus der Nazi-Vergangenheit seines Vaters, wie er sich im Gespräch mit der Neuen Presse erinnert. "Es gab ja auch Fotoalben", sagt Gehringer, und auch ehemalige Kriegskameraden waren im Hause Gehringer zuweilen zu Gast: "Man hat zwar nicht gerade geschwelgt in Erinnerungen, aber sich durchaus ausgetauscht."

Der Ideologie verbunden

1981 holt den bald angesehenen Vereinsvorsitzenden, Festspiel-Darsteller und gar geschätzten ersten Bürgermeister der Stadt die Geschichte ein, als Fritz Gehringer in der Rothenburger Reichsstadthalle das Grußwort bei einem Treffen des Bundeskadetten-Tages spricht und bekennt, heute noch stolz darauf zu sein, auch aus einer (SS-)Eliteschule zu kommen.

Zu verstehen, wie der Vater und so viele mit ihm in der faschistischen Ideologie groß wurden, ihr Ende erlebten und danach in der "verlorenen Generation" junger Menschen nach Kriegsende bei Null anfangen mussten, sind die eine Seite der Aufarbeitung - vielleicht die schmerzlichere. Auf der anderen Seite erlebt Bernhard Gehringer die Mutter in den Briefen, wie er sie vielleicht nie gekannt hat: Selbstbewusst, redegewandt, lebendig. Irmi Gehringer litt an Depressionen, was für die Familie eine große Belastung war, wie Bernhard Gehringer gesteht: "Da hatte es für mich eine beinahe heilende Wirkung, meine Mutter auch einmal anders zu sehen."

Fünf Jahre arbeitet Bernhard Gehringer an der Sichtung, Einordnung und Ergänzung der literarischen Hinterlassenschaft seiner Eltern. Was herauskommt, ist eine dichte literarische Dokumentation eines Briefwechsels zweier junger Liebenden. Durch die große Zeitspanne - zwischen 1939 und 1947 - gelingt ein besonders intensiver Einblick in die Beziehung und Gefühlswelt der beiden Korrespondenten, eingebettet in die von Bernhard Gehringer sorgfältig recherchierte Faktenlage und ergänzt von Original-Fotografien, erklärenden Schilderungen und einer abschließenden Beschreibung der Handlungsorte aus heutiger Sicht - ein authentisches Werk, in jeder Beziehung. "Man kann ihren Idealen und ihrem Streben sehr wohl seine Zustimmung versagen, nicht aber ihrer Aufrichtigkeit und Treue", formuliert Gehringer die Ambivalenz.

Fritz Gehringer schreibt aus dem Reichsarbeitsdienst, von der Rekrutenausbildung, vom Fronteinsatz in Karelien und von der Junkerschule in Klagenfurt, wo die jungen Offiziersanwärter der Waffen-SS bis Juli 1944 zur "letzten Wunderwaffe" gedrillt wurden, während Irmi in der elterlichen Bäckerei im heimischen Rothenburg arbeitete; die letzten Briefe kommen von der Westfront, aus dem Lazarett und dem Internierungslager. Eine Beziehung, die weniger durch persönlichem Kontakt lebte, als in ihren Briefen.

"Stellt euch vor, ihr habt keine Handys", führt so auch der Schulleiter des Friedrich-Rückert-Gymnasiums in Ebern und ehemaliger Kollege Gehringers am Olympia-Morata-Gymnasium in Schweinfurt, Klauspeter Schmidt, seine Schüler in die Lesung aus den Briefen ein: Keine Mails, keine SMS und erst recht kein WhatsApp kannten Irmi und Fritz Gehringer damals. Umso mehr Satzzeichen standen den beiden aber auch zur Verfügung, die eine sprachliche Ausdruckskraft ermöglichte, die die Schüler offensichtlich zu fesseln vermochte.

Apropos fesseln: In seinem nächsten Buchprojekt lässt Bernhard Gehringer die kräftezehrende Auseinandersetzung mit Geschichte und Geschichten rund um sein Elternhaus hinter sich und wendet sich dem Krimi-Genre zu. Doch auch hier darf spekuliert werden, wie viel Wahrheit in der Dichtung liegt: Um einen Schweinfurter Bürgermeister geht es dann, der in den Wirren der Gebietsreform verschollen ist - "ein Panorama des ländlichen Milieus um das Schweinfurt der 70er-Jahre".

Man kann ihren Idealen und ihrem Streben seine Zustimmung versagen, nicht aber ihrer Aufrichtigkeit und Treue.

Bernhard Gehringer

Buch & Autor

Bernhard Gehringer, geboren 1948 im mittelfränkischen Rothenburg ob der Tauber, arbeitete als Gymnasial- und Seminarlehrer (zuletzt am Olympia-Morata-Gymnasium in Schweinfurt). "Nebenher" beginnt er 1999 mit dem Schreiben, stets in sehr persönlicher Art und Weise. Die innerhalb von zehn Jahren im Eigeneverlag erschienenen fünf Bücher kursieren daher zunächst nur im Freundeskreis, ehe sie teilweise auch im Buchhandel erhältlich wurden: Sein Erstlingswerk "Forget Anna" etwa, in dem sich der Autor das Ende einer langen Beziehung aufarbeitet; dann die Auseinandersetzung mit dem autoritären Vater, der in Gehringers Heimatstadt eine Größe war, in "Lendenwirbel" oder dann sein erstes Buch über seine Eltern, "Und dann will ich dein sein. Lehrjahre des Herzens und des Größenwahns. Eine Spurensuche", das zwar ebenfalls öffentliche wie private Dokumente der NS-Zeit heranzieht, aber bewusst Literatur bleiben will. Die Beziehung zweier junger Menschen unter dem Einfluss permanenter nationalsozialistischer Propaganda und deren Verinnerlichung, war aber schon dort Thema, ehe Bernhard Gehringer nach fünf Jahren Schaffenszeit in seinem nunmehr sechsten Buch "Die verschnürten Briefe - Geschichte einer Jugendliebe" (2015) die Liebesgeschichte der Eltern erzählt, eingebettet in den kleinbürgerlichen Alltag im Dritten Reich und in die Zeit nach der totalen Kapitulation. Bernhard Gehringer lebt heute in Bamberg. tnk