Die Räume, in denen persönliche Gegenstände wie Brillen und Schuhe oder abgeschnittene Haare ausgestellt waren, lassen Lucas Bertsch bis heute nicht los. „Damit kam ich gar nicht zurecht. Da musste ich auch rausgehen, das konnte ich mir nicht lange angucken“, gibt der Schüler Einblick in sein Seelenleben. Um an der Fahrt teilnehmen zu können, hat er schweren Herzens die goldene Hochzeitsfeier seiner Großeltern verpasst. „Sie haben gesagt, dass ich mitfahren soll. Und sie hatten recht: So eine Fahrt prägt für das Leben. Sie erdet. Man lernt kleine Dinge wieder zu schätzen“, sagt er.
Mit Hilfe von Workshops und vielen Gesprächen am Abend haben die jungen Erwachsenen das Erlebte, das eigentlich Unfassbare, reflektieren können. Das ist Lehrerin Rita Langer, die selbst schon zum vierten Mal vor Ort ist, wichtig. Hat sie über all die Jahre eine Änderung in der Erinnerungskultur festgestellt? „Die Reaktionen ändern sich über die Jahre nicht. Sie sind alle geschockt, sprachlos. Dafür wird es immer schwerer, Zeitzeugengespräche zu realisieren. Dazu muss jetzt auf Videomaterial zurückgegriffen werden“, sagt sie. Ihr ehemaliger Kollege Burkhard Durner ergänzt: „Es gab früher fantastische Schüler und welche, die das Thema gar nicht interessiert hat. Und heute genauso. Erziehung steht und fällt mit dem Elternhaus.“
Am vierten Tag reiste die Gruppe nach Krakau, um unter anderem an einer Führung durch die Schindlerfabrik teilzunehmen und die Alte Synagoge, die Remuh-Synagoge und den Jüdischen Friedhof zu besuchen und abschließend zur Burg Wavel oberhalb des Flusses Wisla zu laufen. Am letzten Tag der Bildungsfahrt beschäftigte man sich noch einmal ausführlich mit Oskar und Emilie Schindler. Dafür hatte Burkhard Durner die Ausstellung dabei, die vor gut zehn Jahren am Dr.-Sulzberger-Gymnasium in Kooperation mit der Schindler-Biografin Erika Rosenberg erstellt wurde.
Die Erlebnisse haben die Teilnehmer verändert. Sie sind mit vielen Eindrücken in die Heimat zurückgekehrt und haben sich, um solche Verbrechen nicht wiederholen zu lassen, Zivilcourage und ein entschiedenes Auftreten gegen Rechtsextremismus auf die Fahnen geschrieben. Fake-News oder gar Witze über den Holocaust können sie nicht mehr ertragen. „Es ist sehr wichtig, dagegen aufzustehen. Und jetzt fühle ich mich bereit dazu“, sagt Lilli Wolfram. Wie wichtig das im 21. Jahrhundert ist, zeigt Simon Ortner auf. „Der Ungeimpft-Stern auf Corona-Demos zum Beispiel kann nicht anders begriffen werden als eine Relativierung. Wir erleben sie oder gar Leugnungen immer wieder und müssen Widerspruch dagegen einlegen. Der ist aus meiner Sicht noch viel zu leise“, betonte er.
Es ist die erste Bildungsfahrt seit vier Jahren, die der 1. TSV Bad Salzungen auf die Beine stellen konnte. Lange hatte die Pandemie ein solches Projekt verhindert. „Wir waren der einzige deutsche Bus. Ich frage mich: Warum ist das so? Corona ist eine Ausrede. Wir sind der beste Beweis, dass es geht. Uns geht es einfach zu gut“, befindet er. Er setzt sich dafür ein, Geschichte zu vermitteln, und ruft dazu auch andere Lehrer und Engagierte auf – auch wenn eine Fahrt mit Aufwand und einer Portion Bürokratie verbunden ist