Außerschulisches Projekt Eine Reise gegen das Vergessen

Susann Eberlein
Vor Ort beschäftigten sich die Teilnehmer mit dem Holocaust und seinen Opfern im Zweiten Weltkrieg. Was sie vorher in Geschichtsbüchern gelesen haben, konnten sie bei Führungen und Workshops nachvollziehen. Foto: privat

24 Jugendliche und junge Erwachsene haben Breslau, Auschwitz, Birkenau und Krakau besucht. Vor Ort haben sie sich mit den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs beschäftigt und verstanden, warum das Erinnern im 21. Jahrhundert wichtig ist.

 
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Ihre Gedanken in Worte zu fassen, ist nicht leicht. Die Erinnerungen an die Fahrt nach Polen, mit Stopps in Breslau, Auschwitz-Birkenau und Krakau, sind noch frisch, genauso die Emotionen, die sie in Polen überrollt haben. „Ich muss jeden Tag daran denken. Es dauert wohl noch ein bisschen, bis ich das verarbeitet habe“, sagt Lucas Bertsch. Ludwig Kotsch nickt. „Durch den Geschichtsunterricht hat man schon gehört, was dort passiert ist. Aber so richtig verstehen konnte man es erst vor Ort. Und was man dort erlebt hat, vergisst man nicht“, sagt der Dermbacher.

Texte im Geschichtsbuch, Fotos und Filme über das Vernichtungslager und den Holocaust sind oft bedrückend genug. Und doch nicht vergleichbar mit einem Aufenthalt an den Orten, an denen die Gräueltaten geschehen sind. „Das in Person zu erleben, hat vieles greifbarer gemacht. Trotzdem fällt ein Statement schwer. Wer nachempfinden will, was ich erlebt habe, muss selbst hinfahren“, sagt Lilli Wolfram, die den Leistungskurs Geschichte im Dr.-Sulzberger-Gymnasium Bad Salzungen belegt.

Die Schüler sind drei der 24 Jugendlichen und jungen Menschen, die an der außerschulischen Bildungsfahrt „Gegen das Vergessen“ teilgenommen haben. Zur Gruppe gehörten Schüler des Dr.-Sulzberger-Gymnasiums, des Rhön-Gymnasiums Kaltensundheim und des Staatlichen Berufsbildungszentrums Bad Salzungen sowie Sportler des 1. TSV Bad Salzungen und Studenten.

Organisiert und durchgeführt worden ist die Bildungsfahrt vom 1. TSV Bad Salzungen 1990 und dessen Vorsitzenden Burkhard Durner. Er wurde von der Partnerschaft für Demokratie „Denk bunt im Wartburgkreis“ mit Koordinator Simon Ortner und Kevin Rodeck sowie von Lehrerin Rita Langer vom Dr.-Sulzberger-Gymnasium Bad Salzungen unterstützt. Das Projekt ist finanziell vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Jugend und Frauen (BMFSJ) und von der Internationalen Jugend- und Begegnungsstätte IBB gefördert worden.

Die Tage der Bildungsreise waren vollgepackt. Zunächst reiste die Gruppe nach Breslau, um die Innenstadt mit dem historischen Marktplatz, den Breslauer Zwergen und das jüdische Viertel zu besichtigen. Der zweite und dritte Tag gehörte dem Arbeits- und Vernichtungslager Auschwitz mit Stammlager I und Stammlager II, in dem im Zweiten Weltkrieg 1,3 Millionen Menschen – vor allem Juden, Sinti & Roma, politische Gegner und Homosexuelle – ermordet wurden. Es gilt als einer der grausamsten Orte in der Menschheitsgeschichte, Rundgänge und Führungen hinterlassen einen bleibenden Eindruck, unter welchen Bedingungen Menschen ihr Leben ließen.

Die Räume, in denen persönliche Gegenstände wie Brillen und Schuhe oder abgeschnittene Haare ausgestellt waren, lassen Lucas Bertsch bis heute nicht los. „Damit kam ich gar nicht zurecht. Da musste ich auch rausgehen, das konnte ich mir nicht lange angucken“, gibt der Schüler Einblick in sein Seelenleben. Um an der Fahrt teilnehmen zu können, hat er schweren Herzens die goldene Hochzeitsfeier seiner Großeltern verpasst. „Sie haben gesagt, dass ich mitfahren soll. Und sie hatten recht: So eine Fahrt prägt für das Leben. Sie erdet. Man lernt kleine Dinge wieder zu schätzen“, sagt er.

Mit Hilfe von Workshops und vielen Gesprächen am Abend haben die jungen Erwachsenen das Erlebte, das eigentlich Unfassbare, reflektieren können. Das ist Lehrerin Rita Langer, die selbst schon zum vierten Mal vor Ort ist, wichtig. Hat sie über all die Jahre eine Änderung in der Erinnerungskultur festgestellt? „Die Reaktionen ändern sich über die Jahre nicht. Sie sind alle geschockt, sprachlos. Dafür wird es immer schwerer, Zeitzeugengespräche zu realisieren. Dazu muss jetzt auf Videomaterial zurückgegriffen werden“, sagt sie. Ihr ehemaliger Kollege Burkhard Durner ergänzt: „Es gab früher fantastische Schüler und welche, die das Thema gar nicht interessiert hat. Und heute genauso. Erziehung steht und fällt mit dem Elternhaus.“

Am vierten Tag reiste die Gruppe nach Krakau, um unter anderem an einer Führung durch die Schindlerfabrik teilzunehmen und die Alte Synagoge, die Remuh-Synagoge und den Jüdischen Friedhof zu besuchen und abschließend zur Burg Wavel oberhalb des Flusses Wisla zu laufen. Am letzten Tag der Bildungsfahrt beschäftigte man sich noch einmal ausführlich mit Oskar und Emilie Schindler. Dafür hatte Burkhard Durner die Ausstellung dabei, die vor gut zehn Jahren am Dr.-Sulzberger-Gymnasium in Kooperation mit der Schindler-Biografin Erika Rosenberg erstellt wurde.

Die Erlebnisse haben die Teilnehmer verändert. Sie sind mit vielen Eindrücken in die Heimat zurückgekehrt und haben sich, um solche Verbrechen nicht wiederholen zu lassen, Zivilcourage und ein entschiedenes Auftreten gegen Rechtsextremismus auf die Fahnen geschrieben. Fake-News oder gar Witze über den Holocaust können sie nicht mehr ertragen. „Es ist sehr wichtig, dagegen aufzustehen. Und jetzt fühle ich mich bereit dazu“, sagt Lilli Wolfram. Wie wichtig das im 21. Jahrhundert ist, zeigt Simon Ortner auf. „Der Ungeimpft-Stern auf Corona-Demos zum Beispiel kann nicht anders begriffen werden als eine Relativierung. Wir erleben sie oder gar Leugnungen immer wieder und müssen Widerspruch dagegen einlegen. Der ist aus meiner Sicht noch viel zu leise“, betonte er.

Es ist die erste Bildungsfahrt seit vier Jahren, die der 1. TSV Bad Salzungen auf die Beine stellen konnte. Lange hatte die Pandemie ein solches Projekt verhindert. „Wir waren der einzige deutsche Bus. Ich frage mich: Warum ist das so? Corona ist eine Ausrede. Wir sind der beste Beweis, dass es geht. Uns geht es einfach zu gut“, befindet er. Er setzt sich dafür ein, Geschichte zu vermitteln, und ruft dazu auch andere Lehrer und Engagierte auf – auch wenn eine Fahrt mit Aufwand und einer Portion Bürokratie verbunden ist

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