Solch einen Fall hat Olaf Hildebrandt noch nie erlebt. Der 57-jährige Leiter der Mordkommission in Neubrandenburg zeigt sich erschüttert, als er über den gewaltsamen Tod des sechsjährigen Joel aus Pragsdorf spricht.
Der gewaltsame Tod eines sechsjährigen Jungen erschüttert das Dorf Pragsdorf in Mecklenburg-Vorpommern. Nun ist ein 14-jähriger Jugendlicher aus dem Ort verhaftet worden. Die Bewohner sind erleichtert, aber auch ratlos, was das Motiv betrifft. Wie kann ein Heranwachsender ein brutaler Mörder sein?
Solch einen Fall hat Olaf Hildebrandt noch nie erlebt. Der 57-jährige Leiter der Mordkommission in Neubrandenburg zeigt sich erschüttert, als er über den gewaltsamen Tod des sechsjährigen Joel aus Pragsdorf spricht.
Nach der Werbung weiterlesen
Das Kind wurde am 14. September „mit großer Brutalität getötet“, beschreibt Hildebrandt die Tat. Er spricht von „stumpfer und spitzer Gewalt.“ Der Junge wurde erstochen. Das Motiv des 14-jährigen Verdächtigen ist noch völlig unklar.
Die Nachricht von der Festnahme des Jugendlichen, dessen Familie auch in Pragsdorf wohnt, sorgte erst für Erleichterung bei den rund 580 Bewohnern der Gemeinde. Und dann für neue Fragen. „Was geht in einem Menschen vor, dass er einen Sechsjährigen tötet?“, fasst es Pragsdorfs Bürgermeister Ralf Opitz zusammen.
Nach der Verhaftung des Jugendlichen durch die Polizei geht für die Staatsanwälte die Ermittlungsarbeit weiter. So soll der Tatverdächtige zuerst psychologisch begutachtet werden. Davon hänge auch ab, ob die Tat als Mord eingestuft werden müsse. Man hoffe, dass der 14-Jährige von allein rede, heißt es seitens der Staatsanwaltschaft.
Nach der Tat kommen viele Fragen auf. Fragen, die vielleicht nie beantwortet werden: Wie kann ein junger Mensch eine solch brutale Tat verüben? Wie kann jemand, der selbst noch im Jugendalter ist, ein Kind töten? Was ist das Motiv? Wo sind die Ursachen zu suchen? Im familiären oder sonstigen Umfeld? In der psychischen Entwicklung und Persönlichkeit des Tatverdächtigen? Lässt sich ein so extremes kriminelles Verhalten überhaupt rational erklären?
Die Strafrechtlerin Britta Bannenberg von der Universität Gießen sagt – ganz allgemein – über Menschen, die zu Schwerverbrechern, zu Mördern werden: „Es gibt in seltenen Fällen sehr schlechte Voraussetzungen in der Disposition und für bestimmte Persönlichkeitsentwicklungen geben, die schwer zu beeinflussen sind.“
Gerade im Bereich schwerer Gewalt treffe man auf Menschen, die keine Empathie hätten, führt die Kriminologin weiter aus. „Sie sehen den anderen nicht als Menschen und empfinden kein Mitgefühl. Sie denken nur an sich selbst und die Durchsetzung ihrer Interessen. Sie können auch aus verschiedenen Gründen Spaß an der Gewalt und der Dominanz über andere Menschen haben.“ Teilweise könne dies genetisch bedingt sein Bei vielen kämen auch negative Erfahrungen, insbesondere Vernachlässigungen oder Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend, hinzu.
Forscher haben herausgefunden, dass es ein spezielles Gen gibt - das sogenannte Monoaminoxiadse-A oder MAOA-Gen. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Produktion von Botenstoffen im Gehirn wie beispielsweise Serotonin, das wie eine Art Stimmungsstabilisator wirkt.
Bestimmte angeborene Veränderungen dieses Gens – sogenannte Mutationen – können die Neigungen zu Gewalt und aggressivem Verhalten erhöhen. Auch veränderte Hirnfunktionen, welche die Impulskontrolle und die Stimmungsschwankungen steuern, sind als eine mögliche Ursache für kriminelles Verhalten ausgemacht worden.
Inwieweit beeinflussen Gene unser Verhalten? Gibt es eine genetische Disposition für Gewalt? „So einfach ist das nicht, das ein Gen unser Verhalten bestimmen würde“, betont Olaf Rieß, Ärztlicher Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Tübingen. „Es gibt nicht ein Gen, sondern nur einen Komplex von Konstellationen und Gen-Aktivitäten. Wir würden nicht von unseren Genen gesteuert. „Gesellschaftliche Situationen und bestimmte Umstände beeinflussen unser Verhalten erheblich.“
„Den Mörder gibt es nicht“, sagt auch Britta Bannenberg. „Motive sind sehr unterschiedlich, Persönlichkeiten auch.“
Bei schweren Gewalttaten wie Mord und Totschlag sind Jugendliche vergleichsweise selten Tatverdächtige. 206 Personen im Alter von 14 bis 17 Jahren werden für das Jahr 2022 in der Polizeilichen Kriminalstatistik mit sogenannten Straftaten gegen das Leben in Verbindung gebracht. 19 Kinder unter 14 Jahren waren außerdem tatverdächtig bei solchen Straftaten.
Zum Vergleich: Insgesamt verzeichnet die Statistik im vergangenen Jahr 3539 tatverdächtige Personen aus allen Altersgruppen bei Straftaten gegen das Leben, zu denen auch fahrlässige Tötung oder nicht erlaubte Schwangerschaftsabbrüche zählen.
Bundesweit für Schlagzeilen haben in diesem Jahr aber einige Fälle gesorgt, bei denen Teenager ebenfalls Minderjährige getötet haben sollen: