Auch die Bundesregierung trage zur Erosion der internationalen Ordnung bei, kritisierte Duchrow. "Sie schweigt zu den Kriegsverbrechen der israelischen Armee und verspielt damit ihre Glaubwürdigkeit. Doppelstandards vertragen sich nicht mit der menschenrechtsbasierten Außenpolitik, die Annalena Baerbock angekündigt hat", kritisierte sie.
Die Bundesregierung weigere sich, "die Kriegsverbrechen der israelischen Armee beim Namen zu nennen". Amnesty fordere alle Staaten und auch die Bundesregierung auf, keine Waffen an Israel oder andere am Konflikt Beteiligte zu liefern, "bei denen die Gefahr besteht, dass damit Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen begangen werden".
Auf die Frage, ob AI die Hamas als Terrorgruppe bezeichne, antwortete Duchrow: "Wir bezeichnen keine Organisation als Terrorgruppe." Amnesty benutze den Begriff nicht, da er nicht legal völkerrechtlich definiert sei.
Deutschland
Positiv vermerkt Amnesty, dass es endlich einen Bundespolizeibeauftragten gebe - dies schaffe mehr Transparenz und stärke die rechtsstaatliche Kontrolle. Insgesamt zeigten sich die globalen Negativ-Trends aber auch in Deutschland. So erkenne Deutschland strukturellen Rassismus nicht ausreichend an und tue zu wenig, um Menschen vor Hasskriminalität zu schützen. Auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit stehe unter Druck. Ein Beispiel seien pauschale Verbote von Protesten, die sich solidarisch mit Palästinensern zeigten.
"Ganz schweres Geschütz" mit Hausdurchsuchungen, mehrwöchigem Präventivgewahrsam bis hin zu Ermittlungen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung sei gegen die Klimaaktivisten der Letzten Generation aufgefahren worden, beklagte Duchrow: "Das ist ein Angriff auf das Recht auf friedlichen Protest und die Zivilgesellschaft." Besonders problematisch sei Bayern, wo eine 30-tägige Präventivhaft verhängt werden könne.
Frauen- und Minderheitenrechte
In vielen Staaten habe es Rückschläge im Kampf für Geschlechtergerechtigkeit gegeben. So hätten es Frauen in den USA immer schwerer, eine Schwangerschaft abzubrechen. In Afghanistan sei der Schulbesuch für Mädchen weiter eingeschränkt worden, im Iran gingen die Behörden mit zunehmender Härte gegen Frauen vor, die sich der Zwangsverschleierung widersetzten. Zahlreiche Regierungen schränkten die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie von trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) ein. In 62 Ländern gebe es Gesetze, die gleichgeschlechtliche Handlungen kriminalisierten.
Ukraine
Dass die auf Menschenrechten basierende internationale Ordnung offensiv infrage gestellt werde, zeige sich am russischen Angriffskrieg in der Ukraine. So greife Russland dicht besiedelte zivile Gebiete, die Energieinfrastruktur und Getreideexporte an, kritisiert AI. Man habe auch den Einsatz von Folter und anderen Misshandlungen gegen Kriegsgefangene dokumentiert.
Sudan
Im Sudan verüben laut AI beide Konfliktparteien gezielte und wahllose Angriffe gegen Zivilisten. Der Machtkampf zwischen De-facto-Machthaber Abdel Fattah al-Burhan und seinem früheren Stellvertreter Mohamed Hamdan Daglo hat in den vergangenen zwölf Monaten die mittlerweile größte Flüchtlingskrise weltweit ausgelöst. Nach jüngsten Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks sind mehr als 8,6 Millionen Menschen innerhalb des Sudans und in den Nachbarländern auf der Flucht. Im Sudan herrscht eine der schlimmsten humanitären Krisen weltweit.
Die Expertin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter bei Amnesty Deutschland, Lena Rohrbach, warnte, der zunehmende Einsatz neuer Technologien wie Künstliche Intelligenz, Spionage- oder Gesichtserkennungssoftware wirke oft wie ein Verstärker bei der Bedrohung der Menschenrechtslage. Menschen auf der Flucht würden "zum Experimentierfeld neuer Technologien", etwa durch biometrische Überwachung oder algorithmische Entscheidungssysteme wie angebliche Lügendetektoren an der Grenze. Nötig sei eine robuste, zukunftsfeste Regulierung neuer Technologien, verlangte Rohrbach.
Sie kritisierte auch die während der Olympischen Sommerspiele in Paris geplante Videoüberwachung. Es gehe dabei weniger um Gesichtserkennung, als um eine intelligente Videoüberwachung, die bestimmte vorher festgelegte Situationen erkennen solle - etwa wenn eine große Menschenmenge aus Sicht der Standards, die die KI erhalten habe, zu unruhig werde. "Wir halten das für einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Menschen, die da aufgenommen werden", sagte Rohrbach.