Flutnacht im Ahrtal Hilfeschreie: „Kinder, haltet euch die Ohren zu!“

Klaus-Ulrich Hubert

Auch mehr als einen Monat nach der verheerenden Flutnacht sitzt der Schock im Ahrtal tief. Die Pflegers sind eine der Familien, denen „Freies Wort hilft“ dank der vielen Spenden der Leser finanziell unter die Arme greift. Wir haben sie getroffen – fast hätten wir geschrieben, „daheim“. Aber ein Zuhause gibt es erst mal nicht mehr.

 
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Mit 20 habe ich das Elternhaus hinter mir gelassen, mich auf eigene Beine gestellt, unter anderem auch in München gelebt. Dort wurden meine beiden Kinder geboren. Nach der Geburt von Noah, heute zwölf, sind wir nach Dernau zurück gekommen. Weil ich meinen Kindern den Luxus gönnen wollte, im Ruhigen, Ländlichen aufzuwachsen“, sagt Kathrin.

Gerade hat sie ihren Jüngsten und dessen vierzehnjährige Schwester Julie von der Isar wieder an die Ahr heimholen können, nachdem sie über Wochen nur telefonieren konnten. In München kamen die Kinder fern von daheim gut unter.

„Sie waren dort im Verwöhn-Exil nach dem Katastrophen-Erlebnis, wo sie die Großeltern väterlicherseits wieder aufgepäppelt haben“, sagt Kathrin. Und: „Sie sehen ja, dass hier in meinem und dem etwas tiefer liegenden Haus von Opa Helmut und Oma Heidi Stodden auf lange Sicht noch gar nichts geht in Sachen Wohnen und Leben.“

Die in Meckenheim nahe Bonn berufstätige Mutter und ihre Eltern am Ahr-Ufer hoffen, dass es bei den Kindern und Enkeln in Sachen Schockbewältigung so bleibe, denn „im Moment scheinen meine Beiden das Meiste aus der Horrornacht gut weggesteckt zu haben“.

Vor dieser Nacht habe die junge Mutter „eine Art Vorahnung gehabt“, wie sie heute sagt.

An diesem Mittwoch dem 14. Juli muss sie bis 17 Uhr arbeiten. Da ist es bereits schwierig, nach Hause zu kommen, weil viele Straßen überflutet sind. Doch das ist hier im Prinzip nichts neues. Hochwasser halt.

„Niemals hätte ich erwartet, was bald darauf auf uns zu kommt. Da ist noch eine Freundin bei uns und ich habe mit meinen Kindern vorsichtshalber die Habseligkeiten etwas höher gestellt. Hatte ja damit gerechnet, dass wir Wasser in den Keller bekommen, was hier schon mal vorkommt.“

Dann scheinen aber Wetterwarnungen zur Gewissheit zu werden: Mit ihren Eltern befüllt sie abends noch Sandsäcke, packt sie fest vor die Kellerfenster. Nun gehen alle heim, die Kinder aufgeregt gegen 21 Uhr zu Bett. „Ich hab mir eine Flasche Wein aufgemacht, der ja hier an den Ahr-Uferbergen prächtig gedeiht. Aber wie ich so vor dem TV sitze, klingelt mein Telefon. Eine Freundin sagt ganz aufgeregt, dass bei Ihren Eltern schon das Wasser am Haus sei.“

Kathrin legt auf, geht vor ihr Haus, traut ihren Augen nicht: „Die Brühe kommt da schon unsere Friedensstraße hoch, wächst jetzt, nur noch ein Haus vor unserem, immer schneller an. Nie hätte ich damit gerechnet, dass das Wasser so sehr weit herauf kommen kann.“

Also ruft sie jetzt ihren Freund an, weil sie Panik in sich aufsteigen fühlt und ahnt: „Nun wird’s gefährlich. Was soll ich tun?“ Der Freund rät Kathrin, schnell noch ihr Auto etwas höher in Sicherheit zu bringen. Was sie nach kurzer Beratung mit ihren Nachbarn auch tut. Sie hat Glück, am Weinbergsweg schnell einen Parkplatz zu finden. Die meisten Dernauer haben ihre Wagen schon weg gebracht, die Wegesränder sind voll davon.

Doch als Kathrin zurück zum Haus kommt, watet sie schon bis zu den Knien durch das mit Schlamm, Heizöl und Fäkalien versiffte Wasser. „Ich rufe also meine Kinder und versuche weiß Gott noch hilflos, mit Decken und Handtüchern die Türen abzudichten. Was freilich total sinnlos war!“

Als klar wird, dass sie das Wasser nicht aufhalten kann, schnappt sich jeder ein paar Sachen, alle flüchten in den ersten Stock. „Mit dem Wenigen, was wir hochtragen können, weil es doch so fürchterlich schnell ins Haus strudelte. Oben schnappen wir kurz Luft im Schock, rufen meine Eltern, unsere Familie und Freunde an. Da steigt gerade mein Freund in seinem Heimatort an der Mosel ins Auto, will zu uns kommen, uns helfen. Im Gepäck ein 20 Meter langes Seil, um sich hier an der benachbarten Schule fest zu seilen, rüber zu uns zu kommen“, erinnert sich Kathrin.

Als aber das Wasser noch immer höher steigt, sie von unten schon Glasfenster bersten und Möbel zerbrechen hört, bittet sie die Kinder: „Schnappt jetzt bitte eure wichtigsten Sachen aus den Zimmern, wir müssen noch höher flüchten; auf den Dachboden.“

Also den Inhalt der Kleiderschränke schnellstens in Wäschekörbe werfen, auch noch bis ganz hoch wuchten. „Bevor das Wasser im ersten Stock ankommt, gurgelt es unter unheimlichen Geräuschen schon im Bad, in Dusche, Badewanne und aus dem Toilettenabfluss. Mit allem, was Kanalisation und Abwasserleitungen so zu bieten haben.“

Mit Kerzen sitzt man schließlich wie in einem bösen Alptraum oben unterm Dach: „Mein Freund hatte noch angerufen, total verzweifelt, er würde keinen Weg mehr zu uns finden. Dann gerät er selber noch tief ins Wasser, das bis über die Motorhaube seines Autos reicht. Der Motor qualmt …“

Irgendwann zeigt auch das Handynetz, was es in wirklichen Notlagen mit Stromausfall und, und … noch kann. Nichts! „Um uns herum hört man schon Nachbarn um Hilfe schreien. Eine Nachbarin hat keinen Dachboden, und die anderen leben im Erdgeschoss. Ganz, ganz schlimm! Wir können in dem grausigen Moment aber niemandem helfen.“

Kathrin atmet schwer durch: „Also sag ich meinen Kindern, sie sollen sich bitte, bitte ihre Ohren zuhalten, um ihnen das Grauen, nicht helfen zu können, zu ersparen. Das sind die schlimmsten Stunden meines Lebens.“

Die junge Familie betet, geht immer wieder ängstlich und hoffend mit dem Teelicht zur Dachbodentreppe: Steigt die teuflische schlammbraune Brühe immer noch zu uns hoch? Und wie weit wird das noch so weitergehen können?

„Irgendwann stieg es dann aber nicht mehr und es schien nun klar, dass wir in Sicherheit sind. Alle! Auch die Nachbarn, die verzweifelt um Hilfe schrien, die haben es überlebt“, sagt Kathrin Pfleger erleichtert genau einen Monat danach im August 2021.

Im Nachhinein war das Dramatischste, dass sie fast nicht mehr ins Haus gekommen wäre, hätte sie noch länger Platz für ihr Familienauto suchen, dafür weiterfahren müssen. „Dann wäre ich nicht mehr ins Haus zu meinen Kindern gekommen“, sagt sie und zittert.

Kathrin und ihre fast um die Ecke wohnenden Eltern, die Ähnliches erleben mussten, mögen sich gar nicht ausmalen, wie die Kinder in ihrer Angst den Abend alleine hätten überstehen sollen. An diesem Abend ist es das Schlimmste für die junge Mutter und ihre Kinder, als kein Handynetz mehr da ist. „Und man nicht weiß, wie es unserer Familie ergeht. Und meinem Freund, der durch die Fluten zu uns zu kommen versuchte. Und die Frage, wie hoch kommt das Wasser noch? Und, und … einfach die Hölle so was!“

Die Fluthölle, sie riss die meisten Habseligkeiten mit sich. „Die Kids haben ihre Lieblingssachen gegriffen. Ich habe wichtige Unterlagen in Sicherheit gebracht, Ausweise, Stammbuch. Alles wirklich nur rationale Dinge. Aber das größte Geschenk: Meine Kinder waren bei mir, das war doch das Wichtigste!“

Dann der Tag danach: „Wir werden gegen Mittag mit einem Rettungsboot von der Feuerwehr aus dem Haus geholt und erst mal in ein Notlager geschippert. Dort konnte man endlich wieder telefonieren, mein Freund hat uns dann abgeholt. Am frühen Abend also wieder nach Dernau. Mittlerweile konnte man mit Gummistiefeln zum Haus tappen. Aber alles, was mit dem verseuchten Dreckswasser in Berührung kam, das musste in den Müll. Unser komplettes Erdgeschoss, die Küche, das Ess- und Wohnzimmer. Dazu alles was im im ersten Stock auf dem Boden gestanden hatte. Lediglich was oben an den Wänden hing und der Inhalt der Regale auf dieser Höhe ist verschont geblieben. Ansonsten alles an Erinnerungen hinüber, alles.“

Kathrin Pfleger denkt damals beim Anblick des Trümmerfeldes zuerst noch, einiges daraus retten zu können. „Es stellte sich aber als unmöglich heraus.“ Dann die Frage: Wohin danach? „Ich lebe seither vorübergehend mit meinen Kindern bei meinem Freund an der Mosel. Die Kinder sind vorerst hier an den Schulen angemeldet; wir mussten hier halt ein bisschen zusammenrücken. Unser abgesoffenes Daheim ist grade bis auf die Grundmauern freigelegt worden, es soll nun trocken.“

Und wo sonst das Reden übers Wetter als Synonym für Langeweile und „sonst nichts los“ gilt: Kathrin und den anderen betroffenen Ahrtalanliegern gilt der Blick auf den Wetterbericht und voller Sorgen hinauf zum Himmel längst als existenziell. Man geht davon aus, dass die Sanierungen – wo die überhaupt möglich sein werden – mindestens ein Jahr in Anspruch nehmen dürften.

Kathrins größter Wunsch ist nun, während sie fast ungläubig die Solidaritätsspenden aus Thüringen auf ihrem Konto entdeckt, dass all diese Aufregungen, dieses bislang unbekannte, verheerende Gefühl des Ausgeliefertseins, nicht zu sehr von den bislang unbekümmerten Seelen ihrer beiden Kinder zehren.

Noch im August darf die junge Frau gespannt auf ihre Erfahrungen mit der Versicherung sein. „Unser bisheriges Leben ist zwar nicht mehr da. Ja, das finde ich am schlimmsten. Aber alles andere kann man irgendwie und irgendwann ersetzen“, seufzt sie und sagt: „ Wir leben, wir haben alles gesund überstanden. So viele andere Menschen hier leider nicht.“

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