Flut im Ahrtal „Den Schlamm aus den Augen –und sie für immer zugedrückt“

Klaus-Ulrich Hubert

Aufräumen, trauern, erinnern, nach vorne schauen: Im Ahrtal haben die Menschen in jeder Minute mit den Folgen jener schlimmen Nacht vom 14./15. Juli zu schaffen. Wir haben einen Tag mit Carmen und Dirk Poppelreuter verbracht, denen ihr Wirtshaus abgesoffen ist. Jetzt sammeln sie wieder Mut –auch dank der Spenden aus Südthüringen, die „Freies Wort hilft“ ihnen übergab,

 
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Die vierzehnte Stunde ihres heutigen Arbeitstages beim Entrümpeln, Entkernen, Verschrotten, Organisieren, Helfer-Anleiten, Wasser-Bestellen, Dieseltanken fürs Notstromaggregat, Schlammabsaugen endet gerade. „Olé, olé!“ ruft jemand aufmunternd Carmen zu. „Total erledigt“, sei sie, sagt sie, als sie sich im letzten Abendsonnenschein an ihren Ehemann Dirk Poppelreuter lehnt.

Oben, am Friedhof auf dem Kirchengelände von St. Rochus über den Weinbergen von Mayschoß, herrscht jetzt hundertfaches Stimmgewirr. Das Rheinische mischt sich mit Dialekten aus ganz Deutschland. Flutbetroffene und Helfer halten ihr tägliches Abendmahl neben dem katholischen Gotteshaus. Seit Wochen dienst das Kirchenschiff als Not-Warenhaus für Sachspenden zugunsten der Flutopfer.

Mückenspray steht wegen des allgegenwärtigen Schlamms besonders hoch im Kurs, aber auch feinsäuberlich nach Größen sortierte Textilien, jede Menge Hygieneartikel, Gummistiefel, Besen und Schneeschieber zum Schlammbeseitigen, Trockenmilch, Kinderwagen, Spielsachen, Konservendosen, Handys. Polizisten jonglieren gerade eine große Palette H-Milch per Gabelstapler durch parkende Autos hier rein.

Unter einem Partyzelt kochen Freiwillige aus Lebensmittelspenden warmes Abendessen: Veganes für die auffallend vielen jungen Helferinnen, deftige Linsensuppe nach Feldküchenart für die flutbetroffenen Gastgeber … ohne eigenes Dach überm Kopf, geschweige eigenem Herd. „Alles weg, alles!“ sagt eine zivile junge Helferin aus Trier im verdreckten Bundewehr-Drillich.

Die Poppenreuters haben sich gerade Nachschlag geholt. Seit 26 Jahren besitzen sie ihr Gasthaus. Einen Steinwurf von der nun wieder handzahmen Ahr, die vor einem Monat auch ihr Lebenswerk im Touristenparadies zerstört hatte. Gerade, als man nach langer, harter Corona-Pause wieder meinte, nach vorn blicken zu können.

„Just als wir die Schlussrechnung über die fast abgezahlten 80 000 Euro im Briefkasten hatten, ging alles den Bach runter. Im Lockdown haben wir unsere Gastronomie grundlegend saniert. Unsere Schwiegertochter Victoria, die das Wirtshaus betreibt, war so happy, wie alles so schick geworden ist.“

Dirk, den die zierliche Carmen liebevoll „meinen Zweimeter-160-Kilo-Mann“ nennt, legt auf den Bierbänken des Versorgungspunktes hoch über den zerstörten tieferen Ortslagen die Arme um ihre Schultern: „Weißte“, sagt er zu ihr, „wir haben‘s 2016 nach dem Hochwasser auch jewuppt, Carmen. Aber diesmal?“

Als amtlicherseits am verhängnisvollen 14. Juli 2021 nur und auch noch zu spät gewarnt wurde, vorsichtshalber die Keller auszuräumen, da „wären wir bei 5,71 Metern Pegelstand, also gerade mal im nassen Gastraum gewesen“, bilanziert er. Der 20 000-Euro-Schaden, auf dem die beiden vor Jahren mal durch einen verqueren Pächter sitzen blieben, sei ja noch zu verkraften gewesen, ergänzt Carmen. Ständig am Organisieren und Anpacken, zündet sie sich wieder eine Zigarette an der nächsten an, bevor das gemeinsame Abendessen zur Wohltat wird.

„Helfe kann der käiner“, so sangen die Kölsch-Rocker von Wolfgang Niedeckens BAP. „Aber ein wenig eben doch, ganz schön sogar“, sagt Carmen, schiebt die Haare aus dem verschwitzten Gesicht. Nur wenige Stunden an der Seite dieser beherzten Mittvierzigerin spürt man, dass sie wie eine an beiden Enden brennende Kerze mit ihren Kräften auf Verschleiß fährt.

Bevor sie auf der Kirch-Anhöhe mit den anderen zusammentrifft, musste sie noch einen Schrotthändler abfertigen. „Und tschüss!“ sagt sie, als der mit Stahlgitterteilen auf der Ladefläche davon fährt. Jobs wie seiner, die boomen gerade im Ahrtal. Diese Zäune, wie man sie von Absperrungen kennt, sollten verhindern, dass die „leichtbeweglichen Zutaten unserer Sanierungsarbeiten vor der Flut durch Langfinger Beine kriegen“.

„Beine kriegt das ja nicht mehr, aber Schwimmen hat’s gelernt“, kommentiert Carmen den Anblick ihrer gerade abgeholten Bauzäune. Und von praktisch allem, was nicht so niet- und nagelfest wie das Hauptgebäude war. „Zusammengefaltete Autos, Wohnmobile, Möbel … alles wie zu heiß gewaschen und geschleudert“, sagt Andreas Janke. Der Freund von Poppenreuters Sohn weicht seit dem Unglück an all den seither vergangenen gut dreißig Tagen mit seiner umsichtigen Hilfe nicht mehr von deren Seite.

Der vordere Anbau der einst gern besuchten Kneipe sei mit der Flut letztlich weggebrochen, heute nur noch Schotterfläche. Auf der brummt bis spät abends Poppelreuters Notgenerator. Bis es über Mayschoß wieder stockdunkel und unnatürlich-gruselig still wird.

Abends kehren Poppelreuters auf den verschontem höher gelegenen Campingplatz zurück. Notunterkunft. Überall sind Helfer untergebracht. Und Menschen, deren Häuser für lange Zeit oder für immer unbewohnbar sind. „Ein Drittel sind ringsum schon plattgemacht worden“, sagt Carmen.

Wenn sie und Dirk morgens vor ihren umgebauten Bauwagen treten, ihre Augen aufs Weinberge-Idyll richten, ist ihnen oft so, als könne sich an dem friedfertigen Blick nichts ändern. „War irgend was?“ Doch das dauert nur kurz, dann geht’s tagtäglich vorbei am mächtigen Notstrom-Generator-Block. Wieder runter ins verwüstete Tal. In die bittere Wirklichkeit. Vorbei an all den schönen unversehrten Eigenheimen und Gästehäusern in – noch – flutsicherer Höhenlage.

„Aber da unten, drei Quergassen tiefer, ist dann wieder diese niederschmetternde Wirklichkeit, vor der wir eben nicht die Augen verschließen können. Und die Nasen. Denn das Letzte abends und Erste morgens ist diese Miefglocke von Modder, ausgelaufenen Öltanks … Und von Fäkalschlamm, der mit dem steigendem Wasserpegel in den Kanälen den Rückwärtsgang eingelegt hatte. Zudem werden hier immer noch 17 Menschen vermisst, die da irgendwo in den Verwüstungen längst verwesen und vergehen. Corona ist hier notgedrungen weit weg. „Wer Maske trägt, der tut’s wegen des Staubes und Gestanks“, sagt Carmen.

Später Feierabend. Abends treffen sich wieder alle oben am Versorgungspunkt. „Hier gibt’s sonst weit und breit nix zum Einkaufen oder Essen“. Die Frau entstaubt ihre Arbeitskombi, erfrischt sich an einem der 1000-Liter-Wassertanks, die die frühere Uferstraße säumen. Hilfsdienste haben sie aufgestellt. Kurz darauf fährt ein Wasserwerfer der Bundespolizei die Behälter ab, füllt das einzige hier verfügbare Nass wieder auf.

„Die Polizei, dein Freund und Helfer“ wirbt mit Aufklebern an ihren Fahrzeugen mit der Vielseitigkeit ihres Berufes. Dazu gehört auch das Verscheuchen von Journalisten.„Sie können hier nicht stehen bleiben“, hören die Flut-Berichterstatter überall. „Zu viele Paparazzi hier.“ Dass eine Zeitung aus Thüringen hier tief im Westen recherchiert und ihre Leser hunderttausende Euro spenden: Das macht aber Eindruck auf die Polizisten und stimmt sie milde.

Abendversorgung in der katholischen Kirche. Dirk zeigt das vor Vorräten überquellende Kirchenschiff mit dem Gekreuzigten zwischen all dem weltlichen Bedarf.

„Das beste, was dem Gotteshaus jemals passieren konnte“, sagt er sarkastisch. Andreas Janke, der junge Familienfreund, erzählt, wie nach der Flut „zwei ältere, fein gewandete Priester“ vor Carmen, Dirk und ihm saßen. Es hatte sich im Ort rumgesprochen, dass es Carmen nicht so gut ging. „Also kamen die Seelsorger, schwiegen sich vor uns hier im Gerümpel sitzend gemeinsam aus. Bis ich fragte, wie man denn nun mit selbst eingeredeten Schuldgefühlen umgehen müsse.“ Andreas macht eine salbungsvolle Handbewegung, ahmt den vermissten geistlichen Beistand in der Pfarrer-Antwort nach: „Tja, aufarbeiten muss man die!“

Dann sagt er, dass dieser nichtssagende Spruch genauso gut von einem Politiker kommen könnte. „Welche Schuld überhaupt?“ Carmen holt weit bis zur Ahr-Katastrophe aus: „Erst wähnten wir uns sicher, es könnte reichen, unsere Vorräte auf Höhe der Theke zu sichern. Dazu Autos wegfahren, Sandsäcke stapeln. Unser Keller ist gut dicht. Eigentlich. Doch dann stürzte die Schlammbrühe von allen Seiten rein. Dirk kam, schrie ,Los raus hier!‘ Ich werkelte noch an der Ölheizung. Oben hatten wir Sicherheitsglas-Türen. Bevor die krachend nachgaben, sah das Wasser dahinter wie in einem dreckigen Aquarium aus.“

Carmen hatte 2020 einen schwerkranken Freund der Familie bis in dessen Tod begleitet. „Und ihm in die Hand versprochen, mich danach um seine schwer diabeteskranke Frau Brigitte, die nur noch am Rollator gehen konnte, zu kümmern. Mehrfach bei Tag und Nacht. Und nun kommt das große Wasser. Ich hab’s gerade noch so geschafft, sie ins Obergeschoss zu bugsieren. Weil aber weder Festnetz noch Handy funktionierten, konnte ich nach unseren eigenen Titanic-Stunden erst nach ihr sehen, als die Drecksbrühe zurückging.“

Carmen zieht den Rauch einer weiteren Zigarette ein, ihr Gesicht verliert das Strahlen. Sie versucht, ihr stilles Weinen zu kaschieren: „Und dann rufe und rufe ich vor Brigittes Haus. Keiner reagiert. Da stand ein Beil rum. Ich schnappe es, dresche die Haustür ein. Und finde unsere Freundin schließlich in dem Schlamm. Leblos! Nicht oben, in Sicherheit, sondern unten.“

Kripo und Gerichtsmediziner, so Dirk, fanden einige üble Wunden und Prellungen an ihr. Der Schluss lag also nahe „dass unsere Freundin noch mal runter wollte und stürzte, dann den Fluten im Haus hilflos ausgeliefert gewesen sein muss.“

Carmen wischt wieder und wieder ihre Augen: „Unsere Älteste starb erst sieben Jahre zuvor. Und nun saß ich im Schlamm neben der toten Freundin. Ich wische den Schlamm von ihrem Gesicht, spüle ihre Augen von der Dreckschicht aus. Ich sitze da, drücke wie abwesend ihre Augen für immer zu. Und denke an das Versprechen, auf sie aufzupassen.“

Carmen aber sieht die Flut-Situation vor einem Monat nur als „Freispruch zweiter Klasse“. Als man nämlich nach der Handtasche der Ertrunkenen im Obergeschoss sucht, ist die nicht auffindbar.

Und seither hat Carmen neben all den Existenzsorgen dieses zermürbende Bild vor Augen: „Wahrscheinlich hat Brigitte oben ihre Handtasche mit den Papieren vermisst, dann versucht, sie unten noch zu finden. Da stürzte sie über die Treppe. Sie starb wahrscheinlich wegen diesem verkackten Täschchen, dass wir in der Eile wohl nicht mehr mit hoch nahmen.“

Dirk streicht seiner Frau tröstend übers Haar. Er, der Riesenkerl, über den sie sagt: „Als bei uns die ganze neugemachte Gastronomie samt Wohnungen darüber geflutet ist, sitzt Dirk wie gelähmt bereits im Obergeschoss, guckt entgeistert auf das Geschen vor dem Haus. Da schwimmen Autos auf der Ahr!‘ sagt er wie abwesend. Ich habe noch nie einen solch kräftigen, großen Kerl so derart in sich zusammengesackt und absolut bewegungsunfähig erlebt“.

Gegenüber, am anderen Ufer, da riss es einen der Anbauten mit Bewohnern in die Fluten. Zwei von ihnen konnte man retten. „Eine fand man vor vier Tagen bei Aufräumarbeiten. In Ahrweiler“, so Carmen.

Richtig kitschig-schön scheint die Abendsonne am Verpflegungspunkt hoch über Mayschoß durch die Weinreben auf die Gruppen von Helfern und Geholfenen. „Wir wirken hier so dermaßen solidarisch zusammen“, sagt der Zweimetermann, „dass es schon wieder aufwärts geht“.

„Aber wer mir weismachen will, das hier sei kein Klimawandel-Problem, der kriegt mit mir’n Problem. Der kann sich dann zu uns hinzugesellen, die wir so was von tief drinne inne Sch ... sitzen!“

Ob sie unten am Ufer auch wieder wohnen wollen? Carmen schüttelt den Kopf. „Ich bin jetzt 51, habe manches Hochwasser erlebt. Mal sehen, wie und für was wir das Haus hier wieder fit bekommen. Aber wir können uns künftig nur noch oberhalb von angeblichen Jahrhunderthochwasser-Pegeln vorstellen, zu wohnen. Am liebsten auf einem Stelzen-Fundament. In einem Haus, dass man sich im Ernstfall mal selbst für einige Zeit überlassen könnte.“

Sich selbst überlassen waren sie in den schweren Tagen nach der Flut glücklicherweise nicht. Als Manuel Reich und andere Feuerwehrleute aus Schmalkalden direkt nach der Flut vor Ort halfen, bedankten sich die Betroffenen sehr herzlich. Deren Augen wurden vor innerer Bewegung nicht so schnell wieder trocken, als sich der Feuerwehrmann überzeugt zeigte, dass die Solidarität aus Südthüringen gewiss ermögliche, vielen Betroffenen rasch „Erste Hilfe im Mehrere-Tausender-Bereich“ zukommen zu lassen.

Insgesamt 240 000 Spenden-Euro stehen aus der Ahrtal-Aktion von „Freies Wort hilft“ zur Verfügung. Sie wirken bei den Menschen, bei denen sie wirken sollen.

Die Mayschoß-Fahne, die sie aus den Fluten gerettet haben soll nach dem Wiederaufbau einen Ehrenplatz bekommen, unterschrieben von vielen Helfern. Nun auch vom Verein „Freies Wort hilft“ im Namen der Südthüringer Spender.

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