Im Herbst 1989 wollte ich im Hinterland der Sowjetunion, in Kamyschin an der Wolga, recherchieren, ob und wie Perestroika und Glasnost Demokratie und Sozialismus vereinigen können. Noch glaubte ich, dass der Sozialismus, wenn er demokratisch gestaltet wird, als Gesellschaftssystem funktioniert.

Als ich in Kamyschin irgendwann aus der Zeitung erfuhr, dass Honecker abgesetzt ist, dachte ich: "Vielleicht jetzt." Und als ich in der Nachrichtensendung "Wremja" irgendwann im November auf dem Bildschirm ohne Ton die Berliner Mauer erkannte, auf der fröhliche Menschen standen und Sekt tranken, verstand ich nichts mehr. Genauso wenig wie bei meiner Rückkehr Ende November, als ich in Berlin-Schönefeld landete und in Halle völlig überfüllte Züge sah. Mütter reichten Babys durch die Fenster und ein junges Ehepaar schleppte einen alten Mann, wohl den Großvater, auf einer DRK-Tragbahre bis zum Zug, stellte die Trage samt Opa hochkant und schob ihn hinein in den Zug. Ich fragte den Bahner, ob es einen Katastrophenalarmgegeben habe. Er schaute mich verwundert an. "Nee", sagte er, "aber wenn der Großvater lebendig in Kassel ankommt, erhält die Familie 100 Westmark zusätzlich." "Ist in der DDR eine Hungersnot ausgebrochen?" "Nein, man braucht das Geld nicht für Brot und Käse und Wurst, sondern für die Extras, die man nun kaufen kann."

Für die Extras! Man hatte sich in der Zwischenzeit, in der ich in der Sowjetunion den neuen Sozialismus suchte, so begriff ich später, auch die Freiheit erkämpft, anstatt in der Mangelwirtschaft anzustehen, auch die Extras kaufen zu können. Die Konsumgemeinschaft war die erste und wohl auch komplikationsloseste Vereinigung zwischen Ost und West, denn wir hatten nun die Freiheit, alles kaufen zu können. Und die westdeutschen Firmen hatten die Freiheit, alles verkaufen zu können, denn über Nacht bekamen sie einen Markt mit 17 Millionen Kunden geschenkt.