Das Taschenbuch mit den mittlerweile vergilbten Blättern zählt wenig mehr als 130 Seiten. In freien Rhythmen offenbart Reiner Kunze darauf seine unverwechselbare Sicht auf ganz alltägliche Dinge und Empfindungen. Er beschreibt den ersten Frühlingstag und die Brücken von Budapest, erinnert sich an seine Thüringer Wahlheimat Greiz und erzählt von böhmischen Nachbarn. Der "Brief mit blauem Siegel" machte Reiner Kunze, der am 16. August im bayerischen Obernzell sein 80. Lebensjahr vollendet, damals in der DDR zum Geheimtipp.

Vor allem junge Leser fanden ihre Lebenswelten wieder etwa in der Beschreibung eines Minirocks "Zwanzig zentimeter überm knie", unter dem "die luft der trottoire / vibriert vom geläut / der kurzen glocken". Oder in der Aufforderung "Jugend in den Pfarrgarten", die Kunze leicht ironisch mit der biblischen Himmelfahrtsgeschichte verknüpft: Der "rauch der rostbratwürste" zeige immerhin den Weg.

Für den Verkaufserfolg machte das Ministerium für Staatssicherheit der DDR damals "die etwas sehr kolportierende Hetze westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen" verantwortlich. Sie habe "im Grunde genommen Reklame für diesen Band gemacht", schrieb ein Spitzel in Kunzes Akte. Sie umfasst den Zeitraum von der Kritik des Autors an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 bis zur Übersiedlung mit seiner Frau Elisabeth aus Thüringen ins Passauer Land im Frühjahr 1977.

Die gesammelten Berichte, von Kunze in dem Band "Deckname 'Lyrik'" sorgsam dokumentiert, bieten eine gleichermaßen ernüchternde wie erschreckende Innenansicht aus dem "Leseland DDR". Dabei war Kunze ursprünglich alles andere als ein Dissident. Als Bergarbeitersohn 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge geboren, studierte er von 1951 bis 1955 an der Fakultät für Journalistik der Universität Leipzig.

In die Produktion

Für seine frühen Gedichte war es ihm mit dem programmatischen Titel "Die Zukunft sitzt am Tische" durchaus ernst. Die Universitätslaufbahn des SED-Mitglieds Kunze endete jedoch 1959 kurz vor der Promotion wegen "konterrevolutionärer Verbindungen". Zunächst ging er in die Produktion, bevor er sich ab 1962 als freier Schriftsteller im ostthüringischen Greiz niederließ.

Nunmehr ging es ihm nicht mehr um eine lichte sozialistische Zukunft im großen Kollektiv von "neuen Menschen", sondern um Texte, die Individualität betonten. "Sensible Wege", wie der 1969 im Westen veröffentlichte Gedichtband hieß, sollten für Kunze so etwas wie ein Markenzeichen werden. Als 1976 im Westen die Prosa-Miniaturen "Die wunderbaren Jahre" über Kindheit und Jugend in der DDR erschienen, wurde er aus dem Ost-Berliner Schriftstellerverband ausgeschlossen - was praktisch Berufsverbot bedeutete.

Drei Jahre später erreichten die Geschichten aus Kunzes verfemtem Buch die ostdeutschen Wohnzimmer via Westfernsehen. Zu diesem Zeitpunkt lebten die Kunzes bereits in Bayern. Sie hatten nach dem Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 unter dem wachsenden Druck selbst die Ausreise beantragt. Auch in der neuen Umgebung blieb Kunze genauer Beobachter und sensibler Chronist. Darüber hinaus machte er sich einen Namen mit Übertragungen von tschechischer Lyrik. Seine literarische Arbeit wurde vielfach geehrt, darunter 1977 mit dem Georg-Büchner-Preis.

Doch nicht wenige nahmen Kunze seine unversöhnliche Haltung gegenüber den kommunistischen Regimes übel. Kurz nach der Übersiedlung hatte er erklärt, dass die Menschheit von Ländern wie dem, aus dem er gerade gekommen war, für die Zukunft nichts Positives zu erwarten habe. Daraus wurde bald der Vorwurf, er neige zu "eher rechts- denn linksliberalen Kreisen". Entsprechende Mutmaßungen hat er mehrmals entschieden zurückgewiesen: "Rechtsliberal ist man nicht nur nicht, mit Rechtsliberalen sympathisiert man auch nicht", sagte er 2004 als Festredner zum Tag der deutschen Einheit in Erfurt.