Der Meininger Bach Knatsch in der Hofkapelle

Maren Goltz
"Kapellknatsch"- Collage mit dem Pastell von Georg Lilie (1908). Foto: Bachhaus Eisenach/Ute Rosch

Nichts ist so streitbar wie die Kunst. Gestritten wird seit jeher – über’s Werk, auf der Bühne und hinter den Kulissen. Auch die Größen der Zunft machen da mit und teilen aus, wie ein schönes Beispiel rund um Johann Ludwig, den „Meininger Bach“, zeigt.

 
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Im Februar vor fast 300 Jahren sieht sich Johann Ludwig Bach vor einem Wendepunkt in seinem Leben. Mit fast 50 ist er vom Ehrgeiz gepackt. Nun, wo Herzog Ernst Ludwig tot ist seit zehn Wochen, gilt es als Kapellmeister eine gute Figur zu machen. Sich optimal zu präsentieren, Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen zu imponieren, auf dessen Gehaltsliste Bach neuerdings steht. Wann der Erbstreit der Brüder beendet wird, Anton Ulrich das Land allein regiert und in der Residenz Kultur von Format arrangiert? Steht alles in den Sternen. Für Bach ist existenziell, dass er den Schöngeist von sich überzeugt aktuell.
Was Johann Ludwig im Februar 1725 nicht wissen kann: Anton Ulrich braucht noch Jahre bis zur alleinigen Macht. Erst mit fast 60 kriegt der bunte Vogel des Herzoghauses einen Fuß in die Tür der Residenz. Bach erlebt das nicht mehr.

Blanke Nerven

Aber jetzt und hier will Johann Ludwig präpariert sein. Hat was Großes in der Pipeline. Will endlich zeigen, was er musikalisch draufhat. Nun, wo Herzog Ernst Ludwig tot ist. Mehr Förderung und Würdigung hatte er sich von Seiner Durchlaucht versprochen. Vor allem auf seinem Lieblingsgebiet: der geistlichen Musik. Stattdessen befahl der Herzog allzu oft Theater und weltliches Vergnügen. Bachs Trauer hält sich in Grenzen. Anton Ulrich will er nun seine Qualität als Komponist beweisen. Gefragt ist diesmal kein Bühnenstück, sondern etwas Sakrales, Erhabenes, eine ergreifende Trauermusik. Die Messlatte liegt hoch. Und die Nerven blank. Die Zeit ist knapp. Mitten in den Proben ist Kapellmeister Bach, mit rund  40 Kollegen aus Meiningen, Gandersheim und Coburg. Anton Ulrich scheint es zum Glück zu gefallen.

Doch als ob der Prozess des Komponierens und Probens nicht schon kompliziert genug wäre, eskaliert in diesem Moment der Streit zwischen Kapellmeister Bach und dem Flötisten Menges. Schon wieder Knatsch. Seit Jahren gärt es in der Kapelle. Ein Generationenkonflikt. Der verhasste Flötist kommt dem Chef zuvor. Menges weiht Anton Ulrich insgeheim ein in die angespannte Situation daheim. Beklagt sich bitter über Bach. Kommt selbst dabei recht unbescholten rüber. Unerklärlich sei ihm die kommunikative Misere mit dem feindseligen Chef. Dienstherr Anton Ulrich stellt Bach zur Rede. Zu Papier bringen muss er eine Stellungnahme zu dem Zwist. Ungünstiger könnte der Moment nicht sein. Und so peinlich. Bach fühlt sich attackiert, blamiert, besudelt, verleumdet, angeschwärzt und vorgeführt. Es ist eine Frage der Ehre. Also holt Bach aus zum Gegenschlag. Verbal ist er versierter als der Flötist. Soll der nur sehen. Geharnischt wird es, wie man so sagt. Allerdings dauert die Abfassung des Textes – und hält vom Komponieren und Proben ab. Das Schriftstück wird fertig, mit Datum vom 26. Februar 1725.

Unfrieden gestiftet

Deutlich ist das Schreiben: Schuld sei Kollege Menges an der Situation. Bach habe den rund 20 Jahre Jüngeren einst nach Meiningen geholt, empfohlen, unterstützt, wo es nur ging. Undankbar sei es, wie der ihn nun drangsaliert. Dreist und unerhört. Menges vergreife sich im Ton. Gäbe überall seinen Senf dazu. Schwadroniere gern. Verbessere ihn, den Experten. Stifte Unfrieden unter Kollegen. Lästere in der Öffentlichkeit. Mache ihm den Rang streitig. Werbe Schüler ab. Bringe ihn um sauer verdienten Nebenerwerb. Staube unrechtmäßig Gelder ab. Verdünnisiere sich, wenn Arbeit drohe. Was er musikalisch leiste, sei bestenfalls leidlich. Sein Stimmton so miserabel wie die Intonation. Verstoße gegen die zehn Gebote. Menschlich sei er die reine Katastrophe.

Schwache Stellung

Insgesamt 50 Punkte Missbilligung. Am Flötisten bleibt kein gutes Haar. Dabei wird allerdings auch offenbar: Der forsche Flötist kann eine Menge. Ist fleißig, selbstbewusst, vernetzt, beliebt und kommunikativ, besitzt Humor, hat Charme, rüttelt an eingefahrenen Traditionen und verdirbt gehörig die Preise auf diese Weise. Eingestellt wegen Geschicklichkeit, von der Herzogin zehn Jahre zuvor, erhält er viel Applaus. Spielt Flöte, Oboe, Violine und Klavier. Wird belobigt vom Herrscher, bezahlt und befördert. Mehrfach hat der Favorit mit Weggang gedroht. Verhandlung wies den Weg bis in die höchste Entgeltgruppe. Versalzt seit Jahren dem Maestro gehörig die Suppe. Eines der Probleme von Bach ist seine schwache Stellung als Kapellmeister unter dem Ex-Herzog. Die Gunst der Stunde nutzt er jetzt, um das Blatt zu wenden. Bis er endlich erreicht, dass der Flötist die Segel streicht. Die Trauerfeierlichkeiten am 27. März 1725 finden ohne Menges statt. Seine sieben Sachen packt der, wird erst in Darmstadt heimisch und später in Telemanns Hamburger Ratsmusik. Dort beweist sogar noch sein ältester Sohn Geschick.

Bach hingegen bleibt. 26 Jahre sind es zu diesem Zeitpunkt. Am Schluss werden es 32 sein. Prädikat seiner Amtszeit: unauffällig. Dieses Urteil mag hart erscheinen. Des klangvollen Namens wegen. Aber Vetter Bach in Leipzig spielt in einer anderen Liga. Immerhin gibt es Berührungspunkte, wie sich noch zeigen wird.

Kunst und Kultur spielen im Herzogtum Sachsen-Meiningen von Anfang an eine bedeutsame Rolle, seit Bernhard I. Die Gründe sind vielfältig: Erholung für Körper und Geist, Zeitvertreib, Aus- und Weiterbildung, Prestige. Nicht zu vergessen der Wettbewerb mit den Nachbar-Familien in Coburg, Gotha oder Weimar. Mein Schloss, mein Reitpferd, meine Hofkapelle. Keine zehn Jahre ist das Ensemble alt, als es sich zum ersten Mal als Wendepunkt im Leben von Johann Ludwig Bach erweist.

Kaum hat der junge Mann den Abschluss in der Tasche, streckt die Meininger Kirchenbehörde die Fühler aus, gewinnt ihn als Eleven für die Hofkapelle. Man sieht Potenzial in dem frischgebackenen Absolventen. Aus Gründen. Zeigt Bach sich doch nicht nur als Spieler von Musikinstrumenten talentiert, der später als Bläser, am Klavier sowie als Dirigent brilliert und am Puls der Zeit komponiert. Johann Ludwig besticht auch durch seinen frommen Glauben. Und das kommt nicht von ungefähr. Frömmigkeit wird großgeschrieben am Gymnasium in Gotha. Damals Kaderschmiede reiner evangelischer Lehre. Pietismus hat Konjunktur, das heißt auch Feindlichkeit gegenüber Körper und Sinnen. Theater ist Sünde, ebenso wie Musik, Kartenspiel, Tanz und alle nicht-geistliche Kultur. Schüler werden infiltriert, malträtiert, Gegner schon mal suspendiert. Das barocke Universum auf Schloss Friedenstein soll ein Hort des Sittenverfalls sein. Von den Vormündern des Gothaer Herzogs wird dies mit Argwohn betrachtet. Beide sind Hardliner in religiösen Fragen, einer davon sitzt Meiningen – es ist Herzog Bernhard I. Für den Schüler Johann Ludwig aus Steinbach bleibt Gotha zeitlebens Programm. Mit der Vorliebe für Pastelltöne statt für strahlende Farben. Zum Meininger Hofkapellmeister aufgestiegen, ist er zeitlebens mehr Kantor geblieben als Künstler. Bach rechnet sich den Geistlichen zu.

Obolus fällig

Heilfroh ist Vater Jakob über die Meininger Offerte für seinen Sohn. Der Wasunger Kantor ist sozial prekär aufgestellt. Nach dem Tod von Johann Ludwigs Mutter erneut liiert, wird er noch mehrfach Vater. Mit elf wohnt die Halbwaise Johann Ludwig in Gotha beim Onkel, Hutmacher Schmidt. Als für den Jugendlichen dort ein Obolus fällig wird für Kostgeld, brennt förmlich die Hütte. So knapp geht es zu. Der Schulabschluss ist nur mit Unterstützung möglich.
Als Eleve der Hofkapelle kommt der junge Bach zunächst über die Runden. Wohnt im Meininger Schloss, wird dort verpflegt. Allerdings bezweifelt der Vater, dass Lakaien der richtige Umgang für den Jugendlichen seien. Disziplinlos, streitlustig und trunksüchtig sollen sie sein. Zudem rüde Umgangsformen pflegen. Doch Johann Ludwig stellt sich geschickt an. Er fällt auf, seine weitere Qualifikation wird befürwortet. Also wird er nach Salzungen delegiert, wo er an Kirche und Lateinschule assistiert. Studiosus heißt das später. Für ein Studium der Theologie in Erfurt, Halle oder Leipzig reicht es jedoch nicht. Drei Jahre später geht es zurück. Versetzt an die Schlosskirche, wie er selbst formuliert. Als Sachsen-Meininger Kantor und Pageninformator mit Salzunger Sporen – das hat Tradition. Nun ist Bach sogar verantwortlich für die Lakaien.

Suche nach Perspektiven

Abhalten soll er die Kollegen von Alkoholmissbrauch und Beleidigung. Anleiten zu Arbeit und Artigkeit. Das Salär reicht zum Leben. Aber für keine noch so kleine Familie. Residenzgründer Bernhard stirbt nach drei Jahren. Bei einer neuen Herrschaft scheint Vorsicht geboten im Kulturbereich. Der alte Kapellmeister geht, und auch Johann Ludwig sucht neue Perspektiven. Sein Vater Jakob hat stets sozialen Aufstieg im Blick. Und formuliert für den Ältesten eine Bewerbung um das gut dotierte Kantorat in Eisenach. Diesmal allerdings umsonst. Im Wettbewerb um Eisenach siegt kein Bach. Die Nase vorn hat ein Konkurrent aus Sachsen-Weimar. Damit steht fest: Bach bleibt, wo er ist. Und steigt weiter auf.

1711 wird der Kapellinspektor erst Kapelldirektor in Meiningen, dann Schwiegersohn vom Bauinspektor. Es folgt der Umzug in die eigenen vier Wände dem Schloss gegenüber. Rosig ist das Leben dennoch nicht. Aus einem weiteren Brief an Anton Ulrich ist zu erfahren: Mit der Entlohnung des Maestro hapert es seit Jahren. Wegen unpünktlicher Zahlung muss er öfter etwas pumpen. Auch in Sachen Wohngeld, Fisch, Wild und Kerzen lassen sich die Herrschaften länger schon lumpen. Mit Prämien sieht es mau aus. Bach ist genervt. Gefühlt ständig muss er fürs Theater komponieren, früh, mittags und abends zu den Mahlzeiten präludieren.

Auch an Geburts- und Namenstagen von Herzog Ernst Ludwig I., dessen Frauen Dorothea Marie und Elisabeth Sophie und wenn Gäste kommen. Nie sieht er was extra. Auch nicht als Tastenknecht; dabei plagt er sich und alle Fürstenkinder regelmäßig mit Klavierunterricht.

Zuspruch erhält Bach aus Leipzig. Vetter Johann Sebastian ist dort Thomaskantor seit zwei Jahren. Interessiert sich schon länger für die Kantaten des Verwandten. Fertigt Abschriften an, ist gewillt, sie aufzuführen. Das stachelt wohl den Ehrgeiz an, kurz vor seinem 50. Johann Ludwig gibt sein Bestes bei der Trauermusik zum Tod von Herzog Ernst Ludwig. Heraus kommt ein Werk voller Ambition, mit wirklich schönen Stellen, besonders für die zwei Chöre. Ein geschäftstüchtiger Sammler kauft nach Bachs Tod von der Handschrift eine Abschrift. Der Markt für geistliche Werke ist groß. Und der zierliche Name gereicht zur Ehre: Bach. Komplimentiert, manipuliert, retuschiert und spekuliert wird danach. 100 Jahre lang halten Leute vom Fach die Trauermusik von 1725 sogar für einen echten Johann Sebastian Bach. Kein Wendepunkt, aber immerhin eine späte Würdigung.

Die Musik- und Theaterwissenschaftlerin Dr.  Maren Goltz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Meininger Museen.

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