Der andere Reichstag Geprellter Thüringer Gewinner

Michael Plote

Der Reichstag ist ein weltweit bekanntes Symbol für die Bundesrepublik. Eigentlich sollte das Gebäude aber ganz anders aussehen. Der Thüringer Ludwig Bohnstedt hatte den ersten Preis im Wettbewerb gewonnen. Doch dann kam alles ganz anders. Eine neue Ausstellung in Gotha würdigt den Architekten. Unsere Bildergalerie zeigt seinen Entwurf.

 
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Den Bau in Berlin kennt doch jeder. Als Krone ragt eine Kuppel aus Glas und Stahl über dem Herzen der deutschen Demokratie, dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Der siegreiche Wettbewerbsentwurf für den geplanten ersten Bau des Deutschen Reichstages von 1872 stammt vom Gothaer Architekten Ludwig Bohnstedt. Mit einer Kuppel aus Glas und Stahl.

Da liegt eine großformatige, malerisch ausgeführte Zeichnung in der Vitrine im Herzoglichen Museum in Gotha. Ein monumentaler, überwölbter Sitzungssaal. Menschen stehen und laufen, sitzen herum und unterhalten sich. Das Interieur ist sehr fein gezeichnet. Kleinere Blätter mit Grund- und Aufrissen sowie Querschnitten der Fassade aus unterschiedlichen Perspektiven lassen die markante Kuppel hervortreten.

Die Blätter stammen aus einem Album mit 16 Tuschezeichnungen, 16 Ansichten eines Gesamtentwurfes für den Bau des Deutschen Reichstages. Eingereicht vom Architekten Ludwig Bohnstedt (1822–1885) aus Gotha. Unter 102 Einsendungen gewinnt er 1872 den ersten Preis des Wettbewerbes. Der international bekannte Architekt ist auf dem Gipfel seines Ruhmes. Danach folgt der Abstieg, denn der Entwurf wird nicht umgesetzt, obwohl die zeitgenössische Presse Bohnstedt als „des Reiches ersten Baumeister“ feiert. Dazu später mehr.

Die erste monografische Ausstellung „Ludwig Bohnstedt. Der Architekt als Künstler“ aus Anlass seines 200. Geburtstages am 27. Oktober 2022 stellt den weithin unbekannten Maler und Zeichner vor. Dank einer sehr großzügigen Schenkung des Sammlerehepaares Dieter und Angela Dolgner, Arbeiten aus dem eigenen Bestand und Leihgaben der Forschungsbibliothek Gotha kann Kuratorin Ulrike Eydinger eine staunenswerte, vielgestaltige Ausstellung präsentieren. Die Entwürfe des Architekten Bohnstedt sind eine Seite seines außergewöhnlichen Gesamtwerkes. Die Zeichnungen, Illustrationen und Gemälde werden erstmals öffentlich vorgestellt.

Ludwig Bohnstedt wird am 27. Oktober 1822 (nach gregorianischem Kalender) in einer deutschen Familie in St. Petersburg geboren. Er besucht eine deutsche Schule, wird künstlerisch von seiner Mutter geprägt. Bereits mit 17 Jahren geht es zum Architektur-Studium nach Berlin, nimmt Zeichenunterricht, hört philosophische und historische Vorlesungen. Er entwickelt seine visuelle Sprache.

Er ist ein technisch-künstlerisches Naturtalent. Eine eineinhalbjährige Italienreise, eine Grand Tour, vermittelt ihm starke Eindrücke und Impulse. Erste Zeichnungen und Bilder entstehen. In der Gothaer Ausstellung sind stimmungsvolle Landschaften und Naturdarstellungen zu sehen. Überraschend komisch sind Illustrationen für die erstmals 1848 erscheinende russische Ausgabe des „Struwwelpeter“, gemeinsam mit einem Zeichenschüler Bohnstedts. Es sollten später mehr als 100 Auflagen erscheinen.

Zurück in St. Petersburg entwirft Bohnstedt als typischer Vertreter des Historismus ganz unterschiedliche Bauten: Wohnhäuser, eine Fabrik, ein Kloster, Kirchen, das Duma-Gebäude. Er bedient mühelos unterschiedliche Baustile, beteiligt sich an internationalen Wettbewerben mit Entwürfen für Rathäuser in Hamburg, Berlin und Innsbruck, das Londoner Außenministerium, das Stadttheater Riga (gebaut), für ein Industrie- und Kunstausstellungsgebäude in Madrid mit einer Kuppel aus Glas und Stahl. Zehn Jahre später, 1872, nimmt er die Idee in seinem Entwurf für den Bau des Deutschen Reichstages in Berlin wieder auf.

Da lebt er bereits seit 1863 in Gotha. Die persönlichen, beruflichen, künstlerischen und politischen Verhältnisse in Russland führen zu diesem Entschluss. Bohnstedt ist längst ein international geschätzter Architekt, Akademiemitlied, Professor und Lehrer mit Verbindungen in ganz Europa. Er spricht fünf Sprachen und führt „ein bewusstes Leben als früher Europäer“ gegen alle nationalistischen und chauvinistischen Entgleisungen dieser Zeit, schreibt der Kunsthistoriker Dieter Dolgner im Ausstellungskatalog. Das ist der Sammler, der das Museum beschenkt hat.

Von Gotha aus beteiligt sich Bohnstedt wieder an internationalen Wettbewerben, entwirft aber auch Villen und Häuser für betuchte Bürger in der Stadt, in Eisenach (Reuter-Villa), Nordhausen und Friedrichroda, in Bonn und Baden-Baden. Den Sieg Bohnstedts im Wettbewerb für den Bau des Reichstags in Berlin feiern die Menschen in Gotha 1872 mit einem Fackelzug. So viel Ehre und Aufmerksamkeit für den berühmten Mitbürger muss sein. So kurz nach dem Beitritt des souveränen Staates Sachsen-Coburg und Gotha zum neuen deutschen Nationalstaat.

Doch der Entwurf Bohnstedts mit der kühnen Kuppel aus Glas und Stahl wird nicht gebaut. Berliner Architekten intrigieren kräftig dagegen. Die offene Fassade des Gebäudes mit ihrem einladenden Charakter wird als demokratisch interpretiert. Das gefällt längst nicht allen. Der Triumphbogen als nationalistisches Sinnbild kann das nicht ausgleichen. Der Bauplatz an der Ostseite des Königsplatzes (heute Platz der Republik) und die Finanzierung des Baus sind nicht sicher.

Nach zehn Jahren, 1882, wird ein neuer Wettbewerb für den Reichstagsbau ausgeschrieben, Bohnstedt wird formal beteiligt. Da ist er schon lange krank. Den Kampf um den ursprünglichen Entwurf mit der Kuppel aus Glas und Stahl und den Bau des Reichstagsgebäudes hat er da längst verloren. Zwei junge Architekten erhalten je einen Ersten Preis. Paul Wallot (1841–1912) führt den Bau nach seinem modifizierten Entwurf aus.

Ludwig Bohnstedt stirbt kurz danach 1883 in Gotha. Das heutige Reichstagsgebäude in Berlin trägt eine alles überragende Kuppel aus Glas und Stahl. Die Idee dazu hatte Ludwig Bohnstedt, der Architekt und Künstler aus Gotha.

Das „Reichsaffenhaus“ und der Kampf mit dem Kaiser

Der Architekt Paul Wallot hatte es auch nicht leicht beim Bau Reichstages. Als das Parlamentsgebäude mit der Kuppel 1894 fertig gestellt wird, liegen zehn Jahre Kampf mit missgünstigen Kollegen und vor allem mit Kaiser Wilhelm II. hinter dem durchsetzungsstarken Baumeister. Für den letzten deutschen Kaiser werden Gebäude und Kuppel Symbole für das ungeliebte Parlament.

Paul Wallot wird 1841 in Oppenheim am Rhein geboren. Er studiert zunächst Maschinenbau in Hannover, wechselt dann an die Königliche Bauakademie in Berlin. Von 1864 bis 1867 ist er bei den Berliner Architekten Strack, Lucae, Hitzig und in der Firma Gropius und Schmieden tätig. Danach unternimmt Wallot ausgedehnte Studienreisen durch Italien und Großbritannien. Anschließend lässt er sich in Frankfurt am Main als selbstständiger Architekt nieder.

Seinen Durchbruch schafft Wallot, als er sich 1882 an dem (zweiten) Architektenwettbewerb für das geplante Parlamentsgebäude beteiligt. Aus 190 Einsendungen geht er, zusammen mit dem Münchner Friedrich Thiersch, als Sieger hervor. Da Wallots Entwurf jedoch die meisten Stimmen erhält, wird er mit den Bauausführungen beauftragt, die insgesamt zehn Jahre dauern. Der Sieger des ersten Wettbewerbs – Ludwig Bohnstedt aus Gotha – geht leer aus.

Für Wallot beginnt mit dem Bau des Reichstages ein langwieriger Arbeitsprozess und eine ständige Auseinandersetzung mit verschiedenen Instanzen. Nach einem Beschluss von 1880 soll die Akademie des Bauwesens beim Neubau des Reichstagsgebäudes als Berater fungieren - eine unglückliche Regelung, weil viele Akademiemitglieder am vorhergehenden Wettbewerb mit eigenen Entwürfen beteiligt waren. Unkorrektes Verhalten lässt sich der Akademie nicht nachweisen, aber ihre pedantische Kritik an Wallots Arbeit rufen Zweifel an ihrer Objektivität hervor.

Die Bauabteilung im preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten als zweite Gutachterinstanz verlangt ebenso umfangreiche Änderungen. Wallot selbst bleibt nach außen hin geduldig. Er muss in Abständen von wenigen Monaten immer neue Entwürfe für die Anordnung der Innenräume und die Gestaltung der Fassaden liefern. Schließlich kann am 9. Juni 1884 der Grundstein gelegt werden. Beim Hammerschlag Wilhelms I. zerspringt das symbolische Werkzeug.

Während der Bauarbeiten entwickelt sich die Kuppel zum Problem. Wallot wird gezwungen, sie von ihrer zentralen Position über dem Plenarsaal zur westlichen Eingangshalle zu verlegen. Je weiter der Bau vorankommt, desto mehr ist Wallot davon überzeugt, dass die erzwungene Änderung rückgängig gemacht werden müsse. In zähen Verhandlungen erreicht er die Zustimmung dafür.

Inzwischen sind die tragenden Wände um das Plenum jedoch schon errichtet – zu schwach für die geplante steinerne Kuppel, wie alle Berechnungen ergeben. Erst der Bauingenieur Hermann Zimmermann findet eine Lösung. Er reduziert die Kuppelhöhe von 85 Meter auf knapp 75 Meter und schlägt eine relativ leichte, technisch anspruchsvolle Konstruktion aus Stahl und Glas vor. Die so auf Umwegen entstandene Kuppel versorgt den Plenarsaal mit viel natürlichem Licht und gibt dem Parlamentsgebäude den gewünschten würdigen Abschluss.

Wilhelm II., seit 1888 als Kaiser im Amt, ist Wallot anfangs noch wohl gesonnen. Er unterstützt ihn auch in der Frage, wo die Kuppel zu platzieren sei, obwohl er sie prinzipiell als Ärgernis empfindet. Denn er sieht darin ein Symbol für die Ansprüche des ungeliebten Parlaments. Außerdem ist sie höher als die Kuppel des Berliner Stadtschlosses mit ihren 67 Metern. Ab 1892 wird eine zunehmende Abneigung des Kaisers gegenüber dem Gebäude deutlich, er bezeichnet es als „Gipfel der Geschmacklosigkeit“ und „völlig verunglückte Schöpfung“ und schmäht es inoffiziell als „Reichsaffenhaus“.

Trotz aller Seitenhiebe bleibt Wallot ausdauernd. Er will einen neuen nationalen Baustil entwickeln, eine architektonische Parallele zur Vereinigung der deutschen Kleinstaaten und Kulturkreise im Deutschen Kaiserreich. Für die Außenform verwendet er hauptsächlich Formen der italienischen Hochrenaissance und verbindet sie mit einigen Elementen der deutschen Renaissance, mit etwas Neobarock und der damals hochmodernen Stahl- und Glaskonstruktion der Kuppel.

Das Ergebnis wird von vielen Kritikern nicht als gelungene Synthese erlebt, sondern als Neben- und Durcheinander. Traditionalisten lehnen die technische Modernität der Kuppel ab, jüngere Kritiker können sich nicht mit dem massiven Quaderbau im Stil der Renaissance anfreunden.

Am 5. Dezember 1894 kann schließlich der Schlussstein gelegt werden. Wallot führt den Kaiser und die Kaiserin durch das Gebäude, Wilhelm II. lässt öffentlich nur anerkennende Worte hören. Die Baukosten betragen 24 Millionen Mark. Sie werden aus den Reparationen beglichen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 zahlen muss.

Paul Wallot übernimmt Lehraufträge an der Kunstakademie und an der Technischen Hochschule in Dresden, die er bis 1911 inne hat. Dort tut er sich auch mit dem Bau des Ständehauses an der Brühlschen Terrasse hervor. Von Dresden aus leitet er auch die Errichtung des Reichstagspräsidentenpalais, dem heutigen Sitz der Parlamentarischen Gesellschaft. Paul Wallot stirbt 1912 in Langenschwalbach/Taunus.

Mehr zur Parlamentsgeschichte unter: www.bundestag.de/besuche

>>> Die Ausstellung „Ludwig Bohnstedt. Der Architekt als Künstler“ ist bis 15. Januar 2023 im Herzoglichen Museum in Gotha geöffnet, dienstags bis sonntags 10 bis 17 Uhr (Oktober) und 10 bis 16 Uhr (November bis Ausstellungsende). Der Katalog umfasst 176 Seiten mit Farbabbildungen, es gibt ihn für 24 Euro im Museumsshop. www.stiftungfriedenstein.de

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