Eine Zeitungsseite im Schwarz-Weiß-Druck, datiert vom 4. September 1982, schickte Ida Haase aus Suhl an die Redaktion. Dabei handelt es sich um die Titelseite der damaligen Wochenend-Beilage "unser leben". Unter der Überschrift "Mein Typ - dein Typ? Oder: Das Schönheitspflästerchen Loggia" reflektierten Redakteurin Ingrid Ehrhardt und Fotograf Rolf Kornmann Ansichten in Wort und Bild zum Thema "Wohnlicher Balkon".

"Ich kann mich erinnern, wie erstaunt mein Mann und ich waren, als wir unseren Balkon von der damaligen Wohnung Straße der DSF in der Zeitung erkannten. Heute erweckt diese Abbildung Erinnerungen", schreibt die Suhlerin. 30 Jahre nach Erscheinen dieser Zeitungsseite trafen sich unsere Leserin Ida Haase (88) und Autorin Ingrid Ehrhardt (62).

Frau Haase, ich bin überrascht, dass Sie ausgerechnet diese Zeitungsseite so lange aufbewahrt haben. Als Autorin wusste ich damals nicht, dass einer der abgebildeten Balkons Ihnen gehört. Es ging ja in dem Beitrag allgemein darum, wie Mieter etwas tun können gegen die Beton-Tristesse in den großen Wohngebieten. Umso interessanter finde ich, dass wir uns nach 30 Jahren doch noch kennen lernen.

Wäre das früher geschehen, hätten wir es uns auf dem Balkon gemütlich machen können. Meine jetzige Wohnung im Suhler Hochhaus der Volkssolidarität ist ohne. Dafür hat sie Fahrstuhl und aus dem Fenster habe ich wunderschöne Aussichten. Als mein Mann noch lebte und wir die Kraft hatten, den Balkon zu gestalten, war dieser von Frühjahr bis Herbst die Verlängerung unseres Wohnzimmers. Mit der Bepflanzung gaben wir uns auch immer viel Mühe. Wir waren überrascht, dass unser Schmuckstück auf der Zeitungsseite zu Ehren kam. "Das ist doch unsrer!", habe ich zu meinem Mann gesagt. Wir wohnten damals in der Straße der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft, heute die Würzburger. Wir freuten uns, dass unser Balkon unter den positiven Beispielen war. Deshalb habe ich die Seite aufgehoben und der Zufall wollte es, dass sie sogar mehrere Umzüge überstand.

Sie haben es angedeutet: Wenn ein Balkon von üppiger Blütenpracht umrankt wird, steckt eine Menge Arbeit dahinter.

Nicht nur das. Das kostet auch richtig Geld. Seit 1990 ist es zwar kein Problem mehr, wunderschöne Pflanzen, Spezialerde oder Balkonzubehör wie Tische, Stühle, Markisen oder Sonnenschirme zu kaufen. Das kann und will sich aber nicht mehr jeder leisten. Viele reisen auch lieber in die weite Welt und genießen dort die Landschaften. In der DDR war das alles noch ein bisschen anders.

Erzählen Sie doch mal aus Ihrer damaligen Erfahrung als Balkon-Gärtner!

Mein Mann besorgte die Balkonkästen und brachte diese am Geländer an. Meine Sache waren dann Blumenerde und Pflanzen. Das war nicht so einfach. In einem Jahr sollte beim Pressefest an den Ausstellungshallen erstmals Blumenerde verkauft werden. Es gab da ja nicht nur Kulturveranstaltungen. Meine Nachbarin und ich hatten uns einen kleinen Wagen organisiert und standen schon frühmorgens in der Schlange.

Damit der Vorrat an Erde wohl wenigstens ein paar Stunden reichte, wurde die Abgabe rationiert. Wir waren ganz schön sauer. Bei den Pflanzen musste man ebenfalls ziemlich früh auf dem Markt anstehen. Die Sortenauswahl war beschränkt. Einmal beschloss ich, Pflanzen im Keller zu überwintern. Wegen ziemlich vieler Läuse im Frühjahr blieb es bei diesem Versuch.

Trotzdem haben Sie jedes Jahr wieder Farbe in die graue Betonfassade gebracht und das Wohngebiet ein bisschen aufgehübscht?

Wir hatten unsere ganz persönliche Freude an einem bunt blühenden Balkon und die meisten Leute, die vorübergingen, genossen die Farbtupfer wohl auch. Wir waren schließlich nicht die einzigen Balkongärtner. Wir haben uns damals allerdings ein wenig gewundert, dass in Freies Wort ein Beitrag erschien, hinter dem die Idee steckte: Leute bringt doch wenigstens etwas Farbe in das gleichförmige Fassadengrau eures Plattenbau-Wohngebietes!

Manchmal wunderte man sich auch als Journalist, welcher Beitrag erschien und welcher nicht, welche Sätze gestrichen oder welche Wörter ausgewechselt werden mussten. Bei meinem Beitrag hatte ich einen sehr positiven Einstieg gewählt: 14 600 neue Wohnungen bis 1985 im Bezirk Suhl. Haupt-Baumeister die Bauleute vom VEB Wohnungsbaukombinat "Wilhelm Pieck", spezialisiert auf den Typ P2 Ratio mit Loggia.
Außerdem ermutigte mich der Architekt Ehrhardt Simon, damals Direktor des Büros für Städtebau, den Beitrag durchzuziehen. Er gab wohl auch ein paar Hinweise zur positiven Verpackung der Kritik. Im Nachhinein betrachtet, war die Überschrift "Mein Typ - dein Typ? Oder: Das Schönheitspflästerchen Loggia" für damalige Verhältnisse doch schon etwas frech. Mit Pressefreiheit hatte das natürlich noch nichts zu tun. Es war eher ein winziger Versuch gegen die fortwährende Erfolgs-Tristesse im Zeitungswesen . . .

Man musste aber auch sehen, dass die meisten Leute froh waren, eine Plattenbauwohnung zu bekommen. Die waren mit Fernheizung und niedriger Miete doch sehr bequem.

Tut es Ihnen weh, dass in Suhl bereits viele Plattenbauten abgerissen wurden und dieser Prozess noch längst nicht abgeschlossen ist?

Da ich jeden Tag gründlich mein Freies Wort lese, weiß ich, wie viele Einwohner Suhl bereits verloren hat und noch verlieren wird. Aber wenn ich mir die Stadt anschaue, so hat sie doch im Stadtbild gewonnen, obwohl sie kleiner wird. Es wurde neu gebaut, viele Häuser sind farbenfroh saniert worden und erhalten Aufzüge. Sicher ist noch viel zu tun, aber ich freue mich, wenn ich in der Zeitung lese, dass Besuchern unsere Stadt gut gefällt. Und ich freue mich auch, wenn ich zum Einkaufen unterwegs bin und am großen AWG-Wohnhaus vorbeikomme und die vielen gepflegten Balkons mit ihrer blühenden Pracht bestaunen kann.

Frau Haase, seit wann lesen Sie eigentlich Freies Wort und welchen Teil mögen Sie heute besonders?

Wir sind 1952 nach Suhl gezogen. Im gleichen Jahr haben wir Freies Wort abonniert. Besondere Ereignisse waren für meine Familie immer die Pressefeste. Auch heute, 88-jährig, brauche ich jeden Tag meine Heimatzeitung. Ich lese gründlich, habe ja genügend Zeit. Ganz wichtig ist mir der Lokalteil und lachen Sie bitte nicht, die Kinderseite. Ich finde die unwahrscheinlich gut, weil sie komplizierte Zusammenhänge aus Politik, Technik oder Natur so unwahrscheinlich verständlich erklärt.

Das Gespräch führte Ingrid Ehrhardt.

Ida Haase war bis 1984 im Handel tätig, viele Jahre leitete sie den Diät-Laden in Suhl.

Ingrid Ehrhardt arbeitete von 1974 bis 2003 in der Redaktion Freies Wort, zuletzt als Leiterin der Lokalredaktion Suhl.