Das Verhältnis zwischen den Thüringer Industrie- und Handelskammern und Wirtschaftsminister Matthias Machnig (SPD) ist derzeit gestört. Nach der Entscheidung des Ministers, Investitionszulagen künftig nicht mehr zu zahlen, wenn Unternehmen mehr als 30 Prozent Zeitarbeiter beschäftigten, erklärten die Kammern ihren Austritt aus dem Innovationsrat.

Doch das ist nicht das einzige Reizthema. Peter Traut, Präsident der IHK Südthüringen und IHK-Hauptgeschäftsführer Ralf Pieterwas erklären, welche Probleme sie in der Kommunikation mit dem Minister sehen und warum der von ihm vorgestellte Trendatlas zur Wirtschaftspolitik sie nicht in allen Punkten überzeugt.

Herr Traut, Herr Pieterwas, mehr als 350 Seiten umfasst der Trendatlas, aus dem Wirtschaftsminister Matthias Machnig die Wirtschaftspolitik der kommenden Jahre ableiten möchte. Eine lohnende Lektüre?

Traut: In der Zustandsanalyse ist er sicher ein hilfreiches Papier, denn so eine Bestandsaufnahme braucht jeder regelmäßig. Dieser Teil ist gut strukturiert und nachvollziehbar. Doch dann kommen die Autoren irgendwann an den Punkt, an dem sie von der Analyse des Istzustands in die Ableitung von Trends oder Zukunftsthemen übergehen. Hier beginnt das Werk aus meiner Sicht unlogisch zu werden. In vielerlei Hinsicht sind die angeblichen Trends einfach nicht nachvollziehbar. Und manche Empfehlungen der Autoren halte ich regelrecht für gefährlich für die Wirtschaft, wenn sie denn so in die Tat umgesetzt werden. Ich habe die Befürchtung, dass aus einer guten Analyse politisch motivierte Ziele abgeleitet werden.

Aber ist es nicht trotzdem richtig, sich die Frage zu stellen, wohin die Thüringer Wirtschaft sich künftig entwickeln soll?

Traut: Ich habe ja schon gesagt, dass ich die Analyse der Stärken und Schwächen für gut halte. Allerdings ist so ein Papier auch nicht neu. Herr Machnig ist ja bereits der dritte Wirtschaftsminister, den ich in meiner Zeit als Kammerpräsident erlebe. Das erste Papier dieser Art, das ich damals kennengelernt habe, war die Technologiekonzeption aus dem Jahr 2002. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass in dem Trendatlas nicht so viel anderes drin steht. Das Problem ist nur, dass die Zukunftsaussagen solcher Analysen nur eine kurze Halbwertszeit haben. Die Märkte diktieren die Trends in der Wirtschaft und nicht irgendein Papier, das die Politik erarbeiten lässt.

Waren die Trends denn wirklich überraschend für Sie? Automobilindustrie, Maschinenbau, Optik und grüne Technologien prägen doch schon heute zu einem guten Teil Thüringen.

Pieterwas: Die Wissenschaftlichkeit der Methode der Bestimmung der Wachstumsfelder zweifeln wir stark an. Zudem glaube ich nicht, dass sich Thüringens wirtschaftliche Defizite durch die Definition und Förderung von Wachstumsfeldern ausgleichen lassen. Thüringen verfügt über einen kleinteiligen aber breit aufgestellten Unternehmensbestand, dessen Fortentwicklung insgesamt im Fokus der Wirtschaftspolitik bleiben muss. Es ist ausreichend, Industrie und industrienahe Dienstleistungen als Wachstumsfelder für die Zukunft zu definieren.

Und ist auch ein Sinneswandel, denn es gab vor zehn Jahren ja durchaus Wirtschaftsminister, die die Zukunft für Thüringen in der Errichtung von Call-Centern sahen...

Pieterwas: Die Analyse zeigt eindeutig, Thüringen generiert seine Zuwächse an Wertschöpfung und Beschäftigung maßgeblich aus den Zugpferden Industrie und den industrienahen Dienstleistungen. Auch die Beleuchtung der Schwächen der Wirtschaft Thüringens erfolgt sehr fundiert.

Als erstes Glied in der Kette der Defizite steht die deutliche Produktivitätslücke im Vergleich zu Westdeutschland. Diese Erkenntnis ist sehr wichtig. Die Unternehmen sind zu klein, sie investieren zu wenig in Forschung und Entwicklung, halten hierfür zu wenig Personal vor und sie exportieren mangels eigener Produkte zu selten. Die Folge sind objektive Lohnnachteile im bundesdeutschen Maßstab. Die Zusammenhänge sind sehr gut dargestellt.

Allerdings halten wir die Schlussfolgerung für falsch. Denn um die Produktivitätslücke zu bekämpfen, empfiehlt der Trendatlas die Konzentration der Wirtschafts- und Förderpolitik auf einzelne Wachstumsfelder. Diesen Schluss halten wir für fatal. Das Ziel muss stattdessen darin bestehen, die Fertigungstiefe unserer Unternehmen generell zu erhöhen, da spielt die Zugehörigkeit zu Industriezweig oder Wachstumsfeld keine Rolle. Dass der Trendatlas zum Beispiel dem beschäftigungsstärksten Industriezweig der Metallindustrie die Zukunftsfähigkeit abspricht und von weiterer Förderung ausschließt, können wir keinesfalls mittragen.

Der Streit um die Förderung von Wachstumskernen und besonderen Branchen oder eine Förderung in der breiten Masse ist nicht neu. Ist nicht gerade vor dem Hintergrund, dass ab 2014 deutlich weniger Fördermittel aus Europa zur Verfügung stehen werden eine Konzentration der Förderung richtig?

Traut: Genau die Hoffnung, dass durch eine Konzentration der Förderung auf einige Wenige am Ende alle profitieren können, ist aber falsch. Der Zuwachs an Umsatz und Beschäftigten in Thüringen kommt doch aus der Masse der vielen kleinen Unternehmen und nicht von einigen Großunternehmen. Inzwischen sind zwar am Erfurter Kreuz einige Zugpferde hinzugekommen, doch das breite Wachstum kommt aus der Masse.

Das Problem ist aber, dass der kleine Zulieferer nichts davon hat, wenn der Finalproduzent gefördert wird. Denn der Zulieferer ist im Zweifelsfall austauschbar, unterliegt also auch weiterhin einem enormen Preisdruck und kann damit in der Wertschöpfung nicht weiter aufsteigen. Der Finalproduzent dagegen hat im Idealfall das Glück, dass sein Produkt Alleinstellungsmerkmale im Markt besitzt, er also von vornherein einen höheren Preis erzielen und damit eine höhere Produktivität erreichen kann.

Wie sieht Ihr Gegenentwurf aus?

Traut: Statt der Konzentration der Förderung auf wenige Leuchttürme brauchen wir auch weiterhin eine breit angelegte Förderung, die für die kleinen Unternehmen Anreize setzt, mehr aus ihren Produkten zu machen und somit in der Wertschöpfungskette aufzusteigen. Die vielen kleinen Unternehmen müssen sprichwörtlich in die Lage versetzt werden, dass sie an das Blechteil, an den Bolzen oder an den Bohrer noch den Mikrochip drankleben können. Durch Vernetzung, Kooperation, Forschung und gezielte Förderung muss es gelingen, dass sie unabhängig von der Branche Produkte herstellen, die in der Wertschöpfungskette weiter oben angesiedelt sind.

Aber gibt der Trendatlas nicht genau darauf eine Antwort? Denn die Autoren empfehlen die gezieltere Förderung von Netzwerken, die Unterstützung von Firmenzusammenschlüssen. Sind das nicht Wege, wie aus vielen kleinen Zulieferern ein großer Komponentenhersteller werden kann, der eine höhere Wertschöpfung erzielt?

Pieterwas: Anreize zum Unternehmenswachstum zu geben ist richtig. Durch Zukäufe und Verschmelzungen klettern kleine Unternehmen jedoch nicht automatisch in der Wertschöpfungskette nach oben. Wenn sich zwei Hersteller von Blechteilen zusammenschließen, entsteht daraus nicht zwangsläufig ein neues Unternehmen mit höherer Fertigungstiefe.

Ein denkbarer Ansatz sollte sein, Unternehmenszusammenschlüsse dann zu fördern, wenn dadurch Forschungs- und Entwicklungsabteilungen und mittleres Management hinzugefügt werden. Davon könnte Thüringen wirklich profitieren.

Herr Machnig hofft, dass bei Umsetzung der Ideen im Trendatlas bis zu 50 000 Arbeitsplätze entstehen können. Halten Sie diese Zahl für realistisch?

Pieterwas: Sicher werden auch in den Wachstumsfeldern neue Arbeitsplätze entstehen, doch bei der derzeitigen und künftigen Arbeitsmarktsituation geht es nicht um Arbeitsplätze schlechthin, sondern um besser bezahlte Jobs. Sie sehen, der Bezug zur notwendigen Produktivitätsteigerung ist immer wieder der Kern der Sache. Und wenn wichtige Bestandsbranchen aus dem Blickpunkt geraten, können Arbeitsplätze verloren gehen.

Ein Ansatz des Trendatlas besteht darin, sich zukünftig auf die starken Zentren in Thüringen zu konzentrieren. Wie stehen Sie dazu?

Traut: Ich will mich knapp fassen. Unternehmen müssen dann unterstützt werden, wenn sie Wertschöpfung und Exportquote erhöhen und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze entstehen. Da spielt es keine Rolle, ob das Unternehmen im Kyffhäuserkreis, in Erfurt oder Sonneberg seinen Sitz hat.

Besteht nicht die Gefahr, dass viele von den Gründern der Nachwendezeit jetzt vor der Frage stehen, wie es mit ihrem Unternehmen weitergeht und statt zu wachsen vielleicht ganz aufgeben müssen?

Traut: Das Thema Altersübergang ist sicher eines der wichtigsten, das wir in den kommenden Jahren haben.

Pieterwas: Im Thema Unternehmensnachfolge müssen wir aufpassen, dass kein Scherbenhaufen produziert wird. Das bislang einzige Thüringer Instrument, Unternehmensnachfolgen zu finanzieren, das Programm GuW-Plus wurde auf Eis gelegt. Dieses moderne universelle Förderinstrument brauchen wir unbedingt zurück, wir haben die Reaktivierung von GuW-Plus mehrfach bei Herrn Machnig eingefordert und sind guten Mutes, dass die Interventionen von Erfolg gekrönt sein werden.

Es steckt noch mehr im Trendatlas. Den Ausbau der Aufbaubank zur Strukturbank empfehlen die Autoren. Braucht Thüringen das?

Pieterwas: Es stecken eine ganze Reihe von Vorschlägen zu neuen Strukturen, Agenturen und Anlaufstellen im Trendatlas. Ich bin allein auf zehn neue bei der Lektüre gestoßen. Ich habe die Befürchtung, dass viele Redundanzen geschaffen werden. Das kann sich Thüringen nicht leisten.

Haben Sie denn die Hoffnung, dass Sie mit ihren Befürchtungen beim Minister Gehör finden werden?

Pieterwas: Wir werden es auf jeden Fall auch unter den aktuell schwierigen Kommunikationsbedingungen versuchen. Derzeit haben wir oft das Gefühl, dass wir eingeladen werden, um zu legitimieren, was der eigenen Handlungsmaxime des Ministers entspricht. Deshalb haben die Kammern mit ihrem Rückzug aus dem Innovationsrat auch ein Zeichen gesetzt. Gesprächsrunden mit Alibi-Funktion können wir uns nicht leisten

Traut: Wir erwarten, dass wir als Vertreter der regionalen Wirtschaft Thüringens ernst genommen werden. Wir sind per Gesetz aber insbesondere durch die mehr als tausend ehrenamtlich tätigen Unternehmer legitimiert, die Wirtschaftspolitik in Thüringen aktiv zu begleiten.

Sind die Kammern vielleicht einfach nur beleidigt, weil sie nicht mehr die erste Geige spielen, wie sie es noch unter anderen Wirtschaftsministern getan haben?

Traut: Es ist ja nicht neu, dass Kammern sich gegen Vorhaben des Wirtschaftsministers auflehnen. Auch Herr Reinholz wollte 2004 die Förderbedingungen verändern, ohne vorher mit uns gesprochen zu haben. Dagegen haben wir uns genauso aufgelehnt wie jetzt gegen manche Ideen aus dem Trendatlas. Es geht uns doch nicht darum, welcher Partei der Wirtschaftsminister angehört. Es ist richtig, dass der Minister eigene Impulse setzt. Doch er hat uns aufgerufen, uns an der Diskussion zu beteiligen. Wenn es einen solchen Aufruf gibt, dann sollte er aber auch ernst gemeint sein.

Interview: Jolf Schneider

Peter Traut und Ralf Pieterwas,
Präsident und Hauptgeschäftsführer
der IHK Südthüringen