Gotha/Bad Salzungen - Ciara Lynn braucht nicht zu suchen, sie findet die richtige Taste am Plastik-Radio sofort. Eigentlich ist diese viel zu groß für die kleinen Finger. Ein Lied erklingt. Ciara liebt Musik. Sie strahlt übers ganze Gesicht und ergreift Mamas Hand. Ramona Jurke weiß sofort, was ihre Tochter möchte. "Sie will tanzen." Ciara ist ein fröhliches, ein aufgewecktes Kind. "Sie ist unser kleiner Sonnenschein", sagt Ramona Jurke. Unendlich viel Liebe spricht aus diesem einen Satz.

Dabei hat Ciara in ihrem bisherigen kurzen Leben schon viel mitmachen müssen. Ende dieses Monats feiert sie ihren zweiten Geburtstag. Das Mädchen hat das Down-Syndrom und ist behindert. Und weil bei ihr der Nasen-Rachen-Raum von Geburt an nicht frei war, kann sie schlecht atmen, wenn sie ihr Fläschchen trinkt. "Die Öffnung wächst immer wieder zu", erzählt die Mama. Achtmal wurde das kleine Mädchen bereits operiert. Derzeit wartet sie auf einen erneuten OP-Termin im Erfurter Helios-Klinikum.

Zu Hause ist die kleine Familie seit einem Jahr in einer Neubauwohnung in Gotha. Das Leben von Ramona und Thomas Jurke dreht sich fast ausschließlich um die Tochter. "Sie soll eine glückliche Kindheit haben", sagt die 23-jährige Mama. "Und später ein selbstständiges Leben führen können", ergänzt der Papa. Er ist vier Jahre älter als seine Frau. Dass sich ihre Wünsche erfüllen können, davon sind die jungen Eltern überzeugt. Auch wenn ihr Leben mit Ciara nicht leicht ist.

Etwas stimmte nicht

Das Ehepaar versuchte von Anfang an, Nachwuchs zu bekommen. Es wollte nicht klappen. Die Ärzte machten ihm wenig Hoffnung. Doch es kam ganz anders. Beide konnten ihr Glück nicht fassen. Ramona Jurke war schwanger. Alles verlief normal. "Deshalb ließ ich auch das Fruchtwasser nicht untersuchen", erklärt die 23-Jährige. Mittlerweile lebten die jungen Leute im hessischen Bad Vilbel. Zwei Wochen vor dem Geburtstermin besuchten sie Ramonas Großeltern in Bad Salzungen. Sie waren dort zu einer Familienfeier eingeladen. Da passierte es, die Fruchtblase platzte. Ramona Jurke musste schnell in die Klinik. Das Baby wollte zur Welt kommen.

Als nach der Geburt die Kleine auf der Brust der Mutter liegt, bemerkt Ramona Jurke, dass etwas nicht stimmt. Sie erinnert sich: "Ciara atmete so komisch." Hebamme und Kinderarzt bekamen die Nase der Kleinen nicht frei. Die Gefühle der jungen Mama fuhren Achterbahn. Vor Freude hätte sie die ganze Welt umarmen können. Doch immer wieder kam eine Frage hoch: Was ist mit Ciara?

Die Mediziner beruhigten die Mutter, das Baby müsse im Erfurter Helios-Klinikum operiert werden. Ehe sie und ihre Tochter abfuhren, kam der Kinderarzt noch einmal zu Ramona Jurke. Sie beschlich ein ungutes Gefühl. So recht wollte er mit der Sprache nicht herausrücken. Sie forderte ihn auf, ihr die Wahrheit zu sagen. Die Worte des Arztes trafen die junge Mutter hart: "Es besteht der Verdacht, dass ihr Kind das Down-Syndrom hat."

Für die 23-Jährige brach eine Welt zusammen. Sie weinte, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es quälten sie immer die gleichen Fragen: Warum haben gerade wir ein behindertes Kind? Was habe ich falsch gemacht?

Die Großeltern kamen zu ihr ins Krankenhaus, trösteten sie und sprachen ihr Mut zu. Ramonas Mutter beruhigte die Tochter am Telefon. "Ich spürte in diesem Moment, die Familie steht hinter mir und meinem Kind. Das gab mir Kraft. Bis heute hat sich das nicht geändert. Dafür bin ich dankbar." Wie ihr Mann die Nachricht aufnehmen würde, wusste sie eigentlich. Am Telefon wollte sie es ihm aber nicht sagen.

Thomas Jurke war auf Montage. Während der Schwangerschaft hatten sich beide unterhalten: Was wird, wenn wir ein behindertes Kind bekommen? "Wir nehmen es natürlich", war Thomas Jurkes Antwort. Heute denkt er noch genauso: "Für mich gab es keinen Zweifel. Ich bin gerne Vater und wollte es immer sein. Wenn ich meine Tochter in den Arm nehmen kann, bin ich glücklich."

Jede OP ist schlimm

Anfangs wurde das Mädchen durch eine Magensonde ernährt. Nach der Operation lernte es aus der Flasche zu trinken. "Die ersten Tage brauchten wir eine Stunde", entsinnt sich Ramona Jurke. Ciara hatte ein Röhrchen in der Nase. Ihre Mutter musste es mit einem Katheter freihalten, damit das Baby atmen konnte. Mittlerweile kennen die Eltern den Ablauf in der Klinik. Sie vertrauen dem Erfurter Ärzte- und Schwesternteam. "Dennoch ist jede OP schlimm", sagt die Mutter. Es gibt Unwägbarkeiten: Die Narkose, Atemaussetzer...

Ramona Jurke erklärt: "Mit dem Down-Syndrom hat das aber nichts zu tun." Darüber haben sie und ihr Mann alles gelesen, was sie finden konnten. "Ich habe mir Bücher besorgt, das Internet durchforstet und mit anderen betroffenen Eltern gechattet", erzählt die 23-Jährige. Heute weiß sie genau, was hinter den einzelnen medizinischen Fachbegriffen steckt. Die Eltern suchten Fachärzte auf. Ein Stein fiel ihnen vom Herzen, als sie erfuhren: Die Kleine ist organisch kerngesund. Sie hat keinen Herzfehler, der bei Down-Kindern so häufig auftritt.

Die Eltern fördern Ciara Lynn, wo sie können. Sie gehen mit ihr zur Frühförderung und zu einer speziellen Physiotherapie, denn ihre Muskeln waren kaum entwickelt. Das Baby, das nicht einmal seine Füßchen in den Munde stecken konnte, lernte, seinen Körper zu drehen. Heute robbt sie mit wahrer Begeisterung Kater Tigger hinterher. Und neuerdings hat sie herausgefunden, dass ihre Beine zum Laufen da sind. Ciara macht Winke-Winke, reicht die Hand zum Willkommensgruß und kann allein aus der Henkelflasche trinken. Und sie sagt Papa.

Was so selbstverständlich klingt, sind für das Mädchen Riesen-Fortschritte. "Kinder wie unsere Tochter entwickeln sich langsamer als ihre Altersgefährten", erläutert Thomas Jurke. Seit März geht sie in den integrativen Kindergarten. Dort spielt und lernt sie mit Kindern ohne Handicap. Ciara freut sich jeden Tag auf die anderen. Ihre Eltern wollen es ganz bewusst so. Ihr Kind soll normal - wie jedes andere Kind auch - aufwachsen.

Und dennoch: Ciara verlangt mehr Zuwendung, mehr Geduld und mehr Zeit. Die Eltern nehmen sie sich. Trotz Berufstätigkeit. Thomas Jurke schult um als Facharbeiter für Lager und Logistik. Auch seine Frau arbeitet wieder - zwar nicht in ihrem Beruf als Sozialassistentin, sondern als Aushilfe in einem Baumarkt. Doch sie fürchtet, dass ihr aufopferungsvoller Einsatz irgendwann Nachteile für Ciara haben könnte. Die Eltern bekommen für die Kleine Pflegegeld. Das könnte wieder gestrichen werden. Der Grund: Ciara kann zu viel. Für die Eltern ist klar: Sie wollen das Beste für ihr Kind. Doch die Fahrten zu den Ärzten, in die Klinik, zu Treffen mit anderen betroffenen Familien kosten Geld. Jurkes vermissen beispielsweise eine Selbsthilfegruppe ganz in ihrer Nähe.

Falsche Vorstellungen

Wie schafft eine 23-jährige Mutter all das? Die Antwort kommt prompt: "Ciara Lynn gibt mir die Kraft." Immer wieder würden sie und ihr Mann sich für die Kleine entscheiden. "Sie ist einzigartig. Wir lieben Ciara so wie sie ist. Sie ist unser Kind." Ganz bewusst sagt Ramona Jurke das. Sie weiß, noch immer gibt es Menschen, die völlig falsche Vorstellungen vom Down-Syndrom haben. Früher versteckten Mütter ihre Kinder. Sie fürchteten die Reaktion der Umwelt. Erst kürzlich hat die junge Frau von einem Fall erfahren, der sie sehr beschäftigt hat. Eine Mutter hat ihr Neugeborenes in der Klinik zurückgelassen, weil es an Mongolismus litt. Früher bezeichnete man das Down-Syndrom wegen der mandelförmigen Augenform der Kinder so.

"Wir gehen offen mit der Behinderung unserer Tochter um", sagt Thomas Jurke. Er und seine Frau waren deshalb auch begeistert, als sie im Internet von einem geplantes Buch über Kinder mit Down-Syndrom lasen. Es wurden Eltern gesucht, die über ihre Kinder erzählen. Ramona Jurke überlegte nicht lange. Sie nahm Rücksprache mit den Initiatorinnen. Und schon saß sie am Computer. Jetzt liegt das Buch vor. Zwölf Mütter aus ganz Deutschland und eine Großmutter haben daran mitgeschrieben. "Wir wollten Mut machen, sich für ein Kind mit Down-Syndrom zu entscheiden", sagt Ramona Jurke. Und das ist gelungen.

"Sternschnuppe 21" will Vorurteile abbauen

Das Down-Syndrom wird durch eine spezielle Genommutation beim Menschen hervorgerufen, bei der das gesamte 21. Chromosom oder Teile davon dreifach vorliegen (Trisomie). Daher wird das Syndrom auch als Trisomie 21 bezeichnet. Menschen mit Down-Syndrom weisen in der Regel typische körperliche Merkmale auf und sind in ihren kognitiven Fähigkeiten meist so beeinträchtigt, dass sie geistig behindert sind. Wodurch diese unübliche Zellteilung verursacht wird, ist nicht bekannt. Das Buch der zwölf Autorinnen, die über Kinder mit dem Down-Syndrom berichten, trägt den Titel "Sternschnuppe 21". Erschienen ist es im Morlant Verlag in Karben (http://www.morlant-verlag.de/). Darin enthalten ist auch Ciaras Geschichte. Die Autorinnen wollen Vorurteile abbauen und zeigen, dass sich durch Förderung, Therapie und Medizin die Lebenserwartung von Down-Syndrom-Kindern deutlich erhöhen kann.