Erfurt Streit um das Sitzenbleiben an Thüringer Schulen

Eike Kellermann
Mit schlechten Noten auf dem Zeugnis ("mangelhaft" enspricht der 5) wird die Versetzung schwer. Foto: Ina Fassbender/dpa Quelle: Unbekannt

In Klasse 5 und 7 gibt es kein Sitzenbleiben. Allerdings sind die Zahlen in den folgenden Klassenstufen hochgeschnellt. Nun fordern CDU und Verbände eine Abkehr von der früheren Reform.

 
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Erfurt - Zum Schuljahr 2011/12 war in Thüringen eine neue Schulordnung in Kraft getreten. Der damalige Bildungsminister Christoph Matschie (SPD) hatte sie gegen harten Widerstand durchgesetzt. Seitdem gibt es nach den Klassenstufen 5 und 7 kein Sitzenbleiben mehr. Von den Schülern sollen - gerade in der schwierigen Zeit der Pubertät - Leistungsdruck und damit verbundene Ängste genommen werden.

Doch die Reform steht auf dem Prüfstand. Grund sind die Erfahrungen, die seit 2011 gemacht wurden. Zwar mussten lernschwache Schüler nicht mehr die Klassenstufen 5 oder 7 wiederholen - es sei denn, sie und ihre Eltern entschieden sich freiwillig dafür. Stattdessen schnellten jedoch die Zahlen der Sitzenbleiber in den folgenden Klassenstufen in die Höhe. Lerndefizite wurden offenbar nur verschleppt.

"Das wird mehr und mehr ein Problem. Die Zahlen sind alarmierend", sagt CDU-Bildungspolitiker Christian Tischner. Er hat sie beim Bildungsministerium abgefragt. Demnach hat sich die Zahl der Wiederholer in der Klassenstufe 6 - bei einer nur leicht gestiegenen Schülerzahl - mehr als verdoppelt. 170 Sitzenbleiber wurden im Schuljahr 2010/11 gezählt, im vorigen Schuljahr waren es 404.

Noch dramatischer ist es in Klassenstufe 8. Von 2010 bis 2019 stieg die Zahl der Schüler um 12 Prozent. Die Zahl der Sitzenbleiber explodierte jedoch geradezu auf mehr als 300 Prozent. Wurden 2010/11 nur 274 Sitzenbleiber gezählt, so waren es 869 am Ende von Schuljahr 2019/20. Sie machten einen Anteil von fast 5 Prozent an der Gesamtzahl der Schüler aus. 2011 lag der Anteil bei 1,7 Prozent. Besonders gravierend ist der Anstieg im Bereich des Schulamtes Ostthüringen, die Zahl der Sitzenbleiber wuchs von 52 auf 240. Beim Schulamt Südthüringen kletterte sie von 50 auf 129.

Nichts Schlimmes

Vor diesem Hintergrund fordert Christian Tischner eine Abkehr von der früheren Reform. Dafür sprächen pädagogische Gründe, aber auch Gründe des Kindeswohls. Überforderte Schüler seien demotiviert, zudem werde die Lernqualität der gesamten Klasse beeinträchtigt. "Wiederholen ist nichts Schlimmes", sagt der Politiker, der selbst Lehrer war. Womöglich hat der fehlende Leistungsdruck weitreichende Folgen: Dem jüngsten Bildungsmonitor zufolge schafften 9,2 Prozent der Thüringer Schulabgänger keinen Abschluss, im Bundesdurchschnitt sind es 6,6 Prozent.

Tischner steht mit seiner Forderung nicht allein. Auch der Thüringer Lehrerverband ist dafür, die bisherige Regelung abzuschaffen. "Die hat sich überhaupt nicht bewährt, im Gegenteil", sagt Verbandschef Rolf Busch. Allerdings betont er, dass allein mit einem Wiedereinführen des Sitzenbleibens niemandem geholfen sei. Vielmehr müsse es für lernschwache Schüler einen individuellen Förderplan geben.

Auch die Bildungsgewerkschaft GEW fordert, dass wieder in jeder Klassenstufe in Regelschule und Gymnasium eine Versetzungsentscheidung getroffen wird, allenfalls eine Ausnahme nach Klasse 5 ist für sie denkbar. Viele Lehrer hätten sich aufgrund von negativen Erfahrungen mit der bedingungslosen Versetzung gegen die bisherige Praxis ausgesprochen. "Der Einfluss auf die Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler (also die Steigerung) durch eine Versetzungsentscheidung ist nicht unerheblich und fördert letztlich eine bessere Lernatmosphäre der Schülerin/des Schülers und auch der ganzen Lerngruppe/Klasse", so die GEW.

Nach Informationen unserer Zeitung drängen weitere Gewerkschaften sowie der Landeselternverband das Bildungsministerium zum Wiedereinführen des Sitzenbleibens in allen Klassenstufen. Bildungsminister Helmut Holter (Linke) will jedoch an der bisherigen Regelung festhalten. Sein Ministerium teilte auf Nachfrage mit: "Das Bildungsministerium strebt nach wie vor keine Abkehr von der bisherigen etablierten und pädagogisch sinnvollen Praxis der Doppeljahrgangsstufen an."

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