Untermaßfeld - Der Mann mit den glasigen Augen will noch nicht hinein. Er hockt, in der Linken eine Flasche Bier, in der Rechten ein zerknautsches Papier, auf einer Bank vor dem Untermaßfelder Gefängnis, eine pralle Reisetasche neben sich. Ja, doch, er werde hineingehen, lallt er ungefragt. "Strafe muss sein", sagt er mit dem gewichtigen Ernst eines Betrunkenen. Doch vorher hole er sich noch ein Bier, sagt er, schüttelt die fast leere Flasche und lacht.

Hubert Schirneck ist ganz und gar nicht zum Lachen. Der Endvierziger mit der randlosen Brille ist Schriftsteller und will an diesem Nachmittag auch ins Gefängnis. Im Gegensatz zu dem Angetrunkenen geht er jedoch freiwillig - zu einer Lesung für die Häftlinge - und darf danach wieder hinaus. "Hoffentlich lassen sie uns wieder gehen", sagt Schirneck. Es klingt ein wenig nervös.

Mit der flapsigen Bemerkung tarnt der Autor aus Weimar wohl seine Aufregung. Aufgeregt ist er vor jeder Lesung. "Ein bisschen", sagt er. Weil er nie wisse, was ihn erwartet. Zehn Zuhörer oder keiner; der Name Schirneck zieht kein Massenpublikum. Bei dieser Lesung sei die Resonanz noch schwerer abzuschätzen, sagt Jens Kirsten. Der hauptamtliche Chef des Thüringer Literaturrates begleitet den Autor und referiert vor dem Gefängnistor sein Wissen über die Haftanstalt im Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Keine schweren Fälle sitzen hier ein, sagt Kirsten. "Viele junge Leute."

Sieben Lesungen geplant

Kirsten hat das Projekt "Lesefluchten" eingefädelt, um den Gefangenen Literatur nahe zu bringen, sowohl Bücher für die Gefängnis-Bibliotheken als auch Autoren für Lesungen. Das Justizministerium hat Geld locker gemacht, 2000 Euro, sagt Kirsten, Honorare für insgesamt sieben Lesungen in Hohenleuben, Suhl-Goldlauter, Tonna, Ichtershausen und Gera.

Gefängnistüren haben keine Klinken, außen nicht und innen schon gar nicht. Mit einem heiseren Summton springt die Gittertür im Metallzaun auf. Sechs weitere Türen werden noch für Schirneck und Kirsten aufgesperrt, nachdem sie Ausweis und Handy beim Pförtner abgegeben haben. Der sitzt unsichtbar hinter einer verspiegelten Scheibe und spricht durch einen knarzigen Lautsprecher zu den Besuchern.

Klar und deutlich drückt sich Uwe Bornkessel aus, Vollzugsdienstleiter mit weißem Koteletten-Bart, der die Besucher ins Innere der ehemaligen Wasserburg führt. Untermaßfeld ist der Dinosaurier unter Thüringens Gefängnissen, seit fast 200 Jahre werden hier Straftäter eingesperrt.

Alle Telefone abgegeben? Irgendwelche Waffen in der Tasche? Pfefferspray? Auf die Routinefragen des uniformierten Mannes schütteln Schirneck und Kirsten die Köpfe. Bornkessel führt sie in den ersten Hof, eine gepflasterte Freifläche, und meldet den Besuch per Funkgerät an. Wie viele Häftlinge hier einsitzen, will Schirneck wissen. 320, sagt Bornkessel. Später, beim Rückweg, wird der Wächter fragen, was Schirneck auf der Herfahrt dachte. Der Schriftsteller wird ihm davon erzählen, wie er zu DDR-Zeiten nur knapp dem Gefängnis entronnen ist. "Wegen Wehrdienstverweigerung."

Bornkessels Funkgerät knarzt, er schließt Türen auf und klappt sie sorgfältig zu, führt den Besuch ins obere Geschoss eines Gebäudes aus schwärzlichen Natursteinen. Olaf Filler wartet dort, ein gebräunter Kumpeltyp, der viel lacht und einen lockeren Umgangston pflegt. "Ich bin der Bildungsmanager", sagt er. "Lehrer im Vollzug." Für Haupt- und Realschulabschlüsse können die Häftlinge hier pauken, unter dem Dach gibt es ein Klassenzimmer und ein Computerkabinett. Schirneck will wissen, ob die 14 PC ans Internet angeschlossen sind. Filler schüttelt den Kopf. Nicht nur die Fenster sind vergittert, auch virtuell dürfen die Insassen die Mauern nicht verlassen.

Stolz ist Filler auf die Gefängnisbibliothek, ein schmaler Raum mit vollgestopften Regalen. 4000 Titel habe er hier stehen, sagt Filler. "500 bis 600 sind immer ausgeliehen." Die meisten Buchrücken sind abgewetzt, ob bei den Reader's-Digest-Bänden, bei Peter Straub oder David Mason. Thriller und Krimis gehen immer gut, doch es sei schwer, die Gefangenen zum Lesen zu motivieren. "Wenn die Fernseher, Playstation, alles auf der Zelle haben, wie soll ich sie da noch locken?" Filler lacht und hebt gleichzeitig ratlos die Schultern.

2500 Euro dürfe er jährlich für Bücher ausgeben, sagt er. Ein großer Teil des Budgets gehe für aktuelle Gesetzbücher drauf. "Da kostet eins dann schon mal 60, 80 Euro." Doch die Gefangenen machen Rabatz, wenn sie sich mit veralteten Texten begnügen müssen - sie kennen die Rechtslage und wissen, ihnen stehen die neuesten Ausgaben zu.

Kaum Geld für Kultur

"Ihr Buch ist gerade ausgeliehen", sagt Filler unvermittelt zu Schirneck. Der zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. Damit hat er nicht gerechnet. Im Gegenteil, er hat extra ein Exemplar mitgebracht für die Gefängnisbibliothek. Nach der Lesung wird er es unter dem Beifall der Zuhörer dem Bildungsmanager überreichen.

Die Zuhörer werden grüppchenweise in ein Zimmer zwei Stockwerke unter der Bibliothek gebracht. Sie tragen Badeschlappen und T-Shirts in blau und weiß. Fast alle sind tätowiert, viele stellen breite Schultern und pralle Armmuskeln zur Schau. Einige Stuhlreihen sind aufgestellt und ein Tisch für den Autor. Die Blumenvase mit den zwei gelben Tulpen wirkt wie der unbeholfene Versuch, Normalität zu demonstrieren.

Die Lesung ist alles andere als normal. Marion Kiese jedenfalls kann sich an keine einzige während ihrer Amtszeit erinnern. Im Grunde genommen gebe es so etwas nur "alle paar Jahre", sagt die Chefin der Justizvollzugsanstalt. "Kulturelle Veranstaltung für die Gefangenen sind eigentlich nicht vorgesehen, der Etat gibt das auch gar nicht her." Weil man den Gefangenen etwas kulturell besseres bieten wolle als Darts und Karten, habe sich ihre Anstalt an dem Projekt beteiligt. Sie kann sogar einen Hobbymusiker bieten, der die Lesung mit Gitarre und Gesang begleitet. "Eiszeit" heißt sein erstes Lied, im zweiten heißt es, sieben dunkle Jahre sind zu überstehen.

30 blasse Gesichter wenden sich schließlich dem Autor zu. Schirneck erzählt in seinem Buch "Smiling Death oder die Kunst, lächelnd von einem Tisch aufzustehen" von einer nahen Zukunft, in der die SPD zur GDP geworden ist, zur Guten Deutschen Partei, und deren Kanzlerkandidaten, der sich von einem Hersteller von Hinrichtungsgeräten unterstützen lässt. Todesstrafen sind in diesem Buch wieder erlaubt, Schirneck liest routiniert. Die Gesichter vor ihm bleiben ausdruckslos.

Ganz normale Fragen

Ein Mann mit schwarzer Haaren kaut hektisch an einem Kaugummi, ein anderer schaut zu Boden, ein dritter kämpft mit dem Schlaf. Es sind Männer, die früh gelernt haben, ihre Gedanken hinter einer teilnahmslosen Miene zu verstecken und ihre Gefühle erst Recht. Ob sie die feine Ironie Schirnecks verstehen, ob sie überhaupt der Lesung wegen gekommen sind oder nur, weil die Deutschlehrerin sie danach fragen wird - Anstaltschefin Kieser geht vom Guten in den Menschen aus.

Die Fragen der Männer an den Schriftsteller sind teils kindlich-neugierig, teils rotzig-provokant. Was er denn sonst so schreibt, wenn dies sein erster Roman ist? Kinderbücher und -geschichten, antwortet Schirneck, die meisten für das Radio. "Sowas lesen wir doch nicht", ruft ein Schwarzhaariger und grinst. "Wir sind alles harte Jungs." Aus dem runden Kragen seines weißen T-Shirts ragen zwei Pistolen, unauslöschlich in die Haut tätowiert. Die Läufe zielen von links und rechts genau auf seinen Adamsapfel. Wie viel er verdient, wird Schirneck gefragt und woher er seine Ideen nimmt.

Ganz normale Fragen, stellt Kirsten vom Literaturrat nach der Lesung fest, als die Gefangenen wieder in ihre Zellen gebracht werden. Alle hätten zugehört, keiner habe gestört, sagt Schirneck. Er klingt zufrieden. "So in etwa" habe er sich die Lesung vorgestellt, eine Mischung aus skeptischen und weniger Interessierten. Es gebe immer zwei, drei Leute, die sich in den Vordergrund spielen, sagt Bildungsmanager Filler.

Nach zwei Stunden stehen Schirneck und Kirsten wieder vor dem Gefängnistor. Der Betrunkene sitzt nicht mehr auf der Bank. "Das war ja mal eine interessante Erfahrung", sagt Schirneck und schaltet sein Mobiltelefon an. In den Pausen, wenn Musik gespielt wurde, habe er in den Gesichtern gelesen. Sie seien sympathisch gewesen, sagt er. Es klingt ein wenig verwundert. So, als werde er darüber nachdenken müssen.