Thüringen Bundestagswahl 2017: Wo das Demografie-Monster lauert

Walter Hörmann

Der Arbeitsmarkt in Südthüringen hat sich gedreht: Nicht mehr Arbeitslosigkeit brennt auf den Nägeln, sondern die Sorge um den Mangel an Arbeitskräften. Im Wahlkampf ist das Thema bisher nicht angekommen.

 
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So viele freie Stellen wie noch nie zuvor: Mit dieser Schlagzeile hatte diese Zeitung den allmonatlichen Arbeitsmarktbericht für den Juli des Jahres 2017 überschrieben. Was Fachleute schon seit Jahren vorhergesagt hatten, ist Realität geworden: Der Mangel an Fachkräften, an Arbeitskräften überhaupt, beginnt, sich auf die wirtschaftliche Entwicklung auszuwirken, den - noch immer nötigen - Aufholprozess zu verlangsamen. 6134 offene Stellen in Südthüringen wies der Bericht aus. Man kann diese Zahl auch anders ausdrücken: Der Region geht Wirtschaftskraft von mehr als 300 Millionen Euro verloren - denn das wäre der Wert, den gut 6000 Mitarbeiter erarbeiten könnten, mindestens!

Zahlenspielerei? Für die IHK Südthüringen ist es weit mehr. Ihr Hauptgeschäftsführer Ralf Pieterwas spricht unumwunden von einer "volkswirtschaftlichen Katastrophe", wenn Unternehmen Maschinen stilllegen, weil sie kein geeignetes Bedienpersonal mehr finden. Und Pieterwas kennt solche Fälle aus der betrieblichen Praxis. Jetzt schon!

Insofern ist die Region ein Modellfall für die ganze Republik. Über viele Jahre seit 1990 geprägt und belastet durch die massive De-Industrialisierung in Folge der politischen Wende und des verheerenden Wirkens der Treuhandanstalt, war Arbeitslosigkeit zum Massenphänomen geworden und hatte zwei Entwicklungen ausgelöst: Eine massive Abwanderung, besonders der Jüngeren aus der Region in wirtschaftliche Zentren vorzugsweise im Süden und Südwesten. Und eine fast durchgängige Niedriglohnpolitik, um Unternehmen zusätzlich zu den mit Steuermitteln finanzierten Investitionshilfen Anreize zu bieten, hier Betriebe aufzubauen, zu übernehmen, jedenfalls: Arbeitsplätze zu schaffen, irgendwie. Alles war besser als Arbeitslosigkeit und der Sturz Tausender in die Ausweglosigkeit von Hartz IV.

So verständlich es aus damaliger Sicht war, um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen und sei er noch so schlecht bezahlt, so weit entfernt von der aktuellen Herausforderung scheint es: Peter Traut, Präsident der IHK Südthüringen, weiß, dass zum Beispiel "der Kreis Hildburghausen die höchste Beschäftigungsquote der Bundesrepublik meldet, in Südthüringen nahezu Vollbeschäftigung herrscht und das regionale Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 3,5 Prozent und damit doppelt so stark wie im deutschen Durchschnitt wachsen wird". Aber er sagt auch: "Fachkräfteengpässe sind gegenwärtig unsere größte Sorge - Innovationen und voranschreitende Digitalisierung sind unumgänglich, um unsere Erfolgsgeschichte fortzuschreiben."

Experten und Wirtschaftsverbände sind sich einig: Qualifikation ist der Schlüssel zum Erfolg - für jeden einzelnen Beschäftigten ebenso wie für den ganzen Betrieb. Dabei geht es nicht mehr nur um die klassische Ausbildung im Unternehmen, auf Fachschulen oder in Hochschulen. Immer deutlicher wird, dass die Unternehmen selbst stärker gefordert sind, ihr Personal weiterzubilden. Die Betriebe müssen mehr tun, um geeignetes Personal zu finden, es weiterzubilden und an sich zu binden.

Angesichts einer Arbeitslosenquote von vier Prozent und Berichten aus der Agentur für Arbeit, dass es immer schwerer fällt, hinreichend qualifizierte Bewerber auf angebotene Stellen zu vermitteln, hat längst ein Wettbewerb um die guten Leute eingesetzt; ein Wettbewerb, der noch selten, aber immer häufiger auch mit dem Gehaltsscheck ausgetragen wird: Qualifizierte Bewerber können inzwischen auch in Südthüringen gute Löhne und Gehälter verlangen, sind unterm Strich hier oftmals sogar finanziell besser gestellt als in Ballungsräumen mit exorbitanten Mieten und weiten Entfernungen zum Arbeitsplatz.

Die "Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung (ThAFF)" erwartet, dass der Arbeitskräftebedarf im Freistaat bis 2025 nochmals deutlich ansteigen wird, weil die starken Geburtsjahrgänge 1955 bis 1960 in Rente gehen werden. 210 000 Stellen müssen allein durch diesen Effekt nachbesetzt werden, hat die Agentur ausgerechnet; weitere 70 000 Jobs werden demzufolge entstehen, weil "die Verfassung der Thüringer Wirtschaft - getragen durch die Dynamik im verarbeitenden Gewerbe und der Konsolidierung im Handwerk, des Baugewerbes und des Dienstleistungssektors - insgesamt sehr gut ist". Und: Facharbeiter werden dieser Prognose zufolge mit 70 bis über 80 Prozent die mit Abstand größte Gruppe der bis 2025 in Thüringen benötigten Arbeitskräfte stellen.

Ist also obsolet, was CDU/CSU in ihr Wahlprogramm geschrieben haben, das Ziel der Vollbeschäftigung bis zum Jahr 2025? Nicht ganz. Denn die offiziellen Statistiken zeigen zum einen nicht das komplette Bild der sogenannten Unterbeschäftigung, zum anderen ist das schwärende Problem der Langzeitarbeitslosigkeit nicht gelöst. Knapp ein Drittel der Arbeitsuchenden in Südthüringen sind seit mehr als einem Jahr ohne Beschäftigung. Das mag daran liegen, dass manche nur eingeschränkt einsetzbar sind; häufig aber passt die schulische und berufliche Qualifikation der Bewerber nicht zu den angebotenen Jobs.

Wer wirklich Vollbeschäftigung erreichen will, kann nicht mehr auf die schnellen und preiswerten Mittel setzen; es bedarf neuer, zusätzlicher und tendenziell teurer Anstrengungen, Langzeitarbeitslose dauerhaft in Lohn und Brot zu vermitteln. Da entstehen neue Herausforderungen an die Bewerber und an die Job-Center, die, wie der neue Chef der Bundesagentur Detlef Scheele sagt, auch mit kommunalen Jugendämtern zusammenarbeiten wollen. Oft müsse nämlich erst für familiäre Probleme eine Lösung gefunden werden, ehe junge Leute fit gemacht werden können für den Job. In manchen Fällen werden aber auch die Betriebe mit ungewöhnlichen Jobmodellen operieren müssen.

Kay Senius, Chef der Regionaldirektion Thüringen, rechnete zu Jahresbeginn vor, dass an die 15 000 Stellen für eher einfache Helfertätigkeiten angeboten wurden, andererseits aber 33 000 Arbeitslose dafür zur Verfügung stehen in Thüringen. Da müssen Problem und Lösung vernünftig zusammengebracht werden.

Tatsächlich sind die Langzeitarbeitslosen fast das letzte verbliebene Personal-Reservoir für die Unternehmen. Die Beschäftigungsquoten von Frauen - fast zwei Drittel in Südthüringen ! - und Älteren sind so hoch, dass sie kaum mehr gesteigert werden können.

Wissenstransfer

Gleichzeitig lauert hier auch das Demografie-Monster: Fast ein Viertel der Beschäftigten in der Region sind jenseits der 55. Die Aufgabe der Betriebe liegt da auf der Hand: Sie müssen nicht nur binnen zwölf Jahren - und in einer Region mit schrumpfender Bevölkerung ! - für große Teile der Belegschaft geeigneten Nachwuchs rekrutieren, sondern vor allem den Wissenstransfer von den Erfahrenen zu Jungen organisieren. Die IHK Südthüringen setzt mittlerweile ziemlich bewusst auf den Schockeffekt: Chefs, die in den Demografie-Rechner auf der Website des IHK eintippen, wie alt ihre Belegschaft ist, erhalten neben Prognosewerten für ihr eigenes Unternehmen einen Wettbewerbsvergleich mit dem Branchendurchschnitt und erfahren, wo es künftig bei der Besetzung offener Stellen eng werden könnte.

Alle wissen: Di e Rückkehrer-Programme in der Region laufen bislang eher zäh; wer vor 15, 20 Jahren in die Fremde gezogen war, ist dort längst angekommen. Um den Weg zurück nach Südthüringen zu finden, bedarf es wirklich hervorragender beruflicher Perspektiven. Die gibt es hier durchaus - aber nicht jeder weiß davon.

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