Nicht infrage gestellt
Im laufenden Wahlkampf bleibt es indes rund um das Thema Europa und Europäische Union vergleichsweise still, wenn man einmal vom Mini-Streit der Kanzlerkandidaten im TV-Duell um einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei absieht. Der Grund dafür mag darin liegen, dass die EU insgesamt von der Mehrzahl der wahlkämpfenden Parteien nicht infrage gestellt wird - und das obwohl etwa in Ungarn, der Slowakei und Polen europakritische Kräfte an der Regierung sind. Ein "Nachahmereffekt" auch bei der Bundestagswahl scheint zumindest möglich.
Förder-Milliarden
Bislang freilich hat Thüringen von der Union, die gerne mal auf den Begriff "Brüssel" verkürzt wird, vor allem profitiert. In der aktuellen Förderperiode (2014 bis 2020) sollen es laut Wirtschaftsministerium etwa 1,165 Milliarden Euro sein, die allein über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) nach Thüringen fließen. Dass längst nicht mehr alles nur in den "armen Osten" fließt, zeigt die Gesamtsumme von mehr als 19 Milliarden Euro für ganz Deutschland.
Experten schätzen, dass jeder Euro Fördergeld etwa drei Euro an Wirtschaftsleistung angestoßen hat. Und hier lohne sich der Weg über Brüssel sogar für Nettozahler wie Deutschland (mehr in die EU-Kasse eingezahlt als aus ihr erhalten), schreibt die EU in ihrer eigenen Förder-Bilanz, "da hiesige Unternehmen mehr Waren und Dienstleistungen verkaufen können". In Deutschland seien so mehr als 100 000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden. Das ist vor allem auf jene Stimmen gemünzt, die meinen, Deutschland solle sein Geld lieber behalten und im eigenen Land investieren statt es nach Brüssel zu geben.
Es wird weniger
Die Folgen seiner positiven Entwicklung bekommt Thüringen indes auch schon zu spüren - und zwar in negativer Hinsicht: Schließlich sind solche Förderungen "degressiv gestaffelt", wie das im Verwaltungssprech heißt. Sie nehmen also von Jahr zu Jahr ab. Interne Szenarien des Erfurter Wirtschaftsministeriums gehen so auch für die nächste Förderperiode (ab 2021) davon aus, dass bis zu zwei Drittel dieser Mittel dann wegfallen werden, also von den 1,165 Milliarden nur noch 400 Millionen Euro bleiben. Das treffe nicht nur die Wirtschaftsförderung, sondern zum Beispiel auch den Städtebau oder den Hochwasserschutz.
Während solche Folgen schon auf lange Zeit abzusehen waren, könnte noch ein statistischer Effekt die Lage verschärfen - durch den Brexit, warnt Wirtschaftsminister Tiefensee. Denn mit den Briten falle nicht nur der drittgrößte Nettozahler der Union weg, sondern es verschiebe sich auch noch die durchschnittliche Wirtschaftskraft. Am durchschnittlichen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt wird jedoch die Förder-Bedürftigkeit von Regionen festgemacht: Unter 75 Prozent bedeuten "sehr bedürftig"und unter 90 Prozent noch "mäßig bedürftig" - darüber gibt es logischerweise nichts. In Zahlen: Lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf EU-weit im Jahr 2015 bei 27 400 Euro, waren es in Großbritannien 39 400 Euro. Ohne die Briten, die etwa 12 Prozent der EU-Bevölkerung ausmachen, entspräche das noch einem Durchschnitt von 25 700 Euro.
Thüringen, das derzeit an der 90-Prozent-Marke liegt, könnte am Ende sogar über die 100 Prozent "katapultiert" werden, ohne dass sich an der Lage hierzulande etwas geändert hätte, so die Warnung von Tiefensee. Dass zudem mehrere Regionen, zum Beispiel Castilia-La-Mancha in Spanien, an Wirtschaftskraft verloren haben, dürfte den Wettbewerb um EU-Hilfen sogar noch anheizen.