Thüringen Bundestagswahl 2017: Die vom Aufschwung Vergessenen

Den Deutschen gehe es gut, sagt die Bundesregierung. Menschen, die auf Tafeln wie die in Bad Salzungen angewiesen sind, sind nicht gemeint. Foto: Heiko Matz

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz findet, es sei "Zeit für mehr Gerechtigkeit". Die Union hält dagegen: In Deutschland geht es gerecht zu. Und die Menschen selbst? Sie sind gespalten - je nachdem, ob sie zu den Verlierern oder den Gewinnern gehören.

 
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Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie im Augenblick", sagt Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Die Wirtschaft wächst, die Zahl der Arbeitslosen ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung und der aktuelle ifo-Bericht sagt weiterhin rosige Zeiten für die Unternehmen voraus. Das Ausland schaut voller Bewunderung auf die deutsche Jobmaschine, das stetig steigende Bruttosozialprodukt und voller Neid auf die Exportüberschüsse. Die Reallöhne der Beschäftigten sind in den vergangenen zehn Jahren im Schnitt um ein Prozent jährlich gestiegen. Das zeigt: Auch Arbeitnehmer profitieren von der wachsenden Wirtschaft. Junge Menschen haben gute Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. Die Zahl der offenen Stellen übersteigt die Zahl der Bewerber. Der aktuelle Armutsbericht der Bundesregierung verkündet die frohe Botschaft, dass Armut im Alter kein Problem sei und die Vermögensungleichheit sogar abnehme. Der Konsumklimaindex kennt offenbar nur eine Richtung: Er steigt und steigt. Die Menschen kaufen wie selten zuvor.

Soziale Gerechtigkeit: gleiche Startbedingungen

Dennoch klagen 80 Prozent der Befragten einer aktuellen YouGov-Umfrage: In Deutschland mangelt es an sozialer Gerechtigkeit! 40 Prozent meinen sogar, dass "Deutschland ein sehr großes Problem in diesem Bereich hat". Anita Mühlberger, Vorsitzende der Tafel in Bad Salzungen, sieht das ähnlich. Jenseits aller Zahlen und Statistiken ist sie mit dem wahren Leben konfrontiert - jeden Tag. Zu ihr und ihren gut zwei Dutzend ehrenamtlichen Helfern kommen Menschen, die im Monat nicht mehr als 450 Euro zur freien Verfügung haben. "Etwa 350 sind es pro Woche", erzählt sie. Die Zahl sei seit Jahren konstant. Nur die Zusammensetzung habe sich geändert. "Es kommen mehr alleinerziehende Mütter und vor allem Rentner." Manche der Betroffenen kämen einmal, andere dreimal pro Woche. "Eine alleinstehende Person zahlt einen Euro und bekommt dafür einen Warenwert von 40 Euro." Wurst, Molkereiprodukte, Obst, Nudeln oder Gemüse. Gespendet wird, was die Konsumgesellschaft nicht mehr braucht. In großen Gefrierboxen stapelt sich abgepacktes Fleisch mit abgelaufenem Verfallsdatum, aber dennoch genießbar. Anita Mühlbauer und ihre Helfer bieten Tafelkunden für 2 Euro ein Mittagessen oder Kuchen für 50 Cent an.

Es sind Menschen, an denen der Aufschwung vorbeigeht, die oft unter sich bleiben und wenig Hoffnung auf ein besseres Leben haben. Die Tafel sei auch sozialer Treffpunkt. "Hier fühlen sich die Menschen wohl", sagt Anita Mühlbauer. Mit dem Geld, das "unsere Kunden beim Essen sparen, können sie sich andere Dinge leisten." Eine Brille zum Beispiel, wenn die Augen nicht mehr so sehen, wie sie sollten. Oder Zähne, wenn die alten faulen oder ausfallen.

Wie ist das nun mit der sozialen Gerechtigkeit im reichen Deutschland? Gibt es sie, oder gibt es sie nicht? Es kommt auf den Blickwinkel an. Die veröffentlichten Zahlen der Bundesregierung und Wirtschaftsinstitute sollen belegen: Deutschland ist gerecht zu seinen Bürgern. Es gibt aber auch andere Statistiken, die dieser Einschätzung widersprechen - auch für Südthüringen. Das Landesamt für Statistik zählt jedes Jahr auf, wie viele Menschen Hilfe zum Lebensunterhalt benötigen 2015 waren es im Wartburgkreis 363. Zehn Jahre zuvor 329. Im Kreis Schmalkalden-Meiningen ist die Zahl von 284 auf 361 gestiegen, im Kreis Hildburghausen von 184 auf 241, im Ilm-Kreis von 332 auf 476, in Suhl von 161 auf 218 und in Sonneberg on 154 auf 227. Bei Empfängern von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sehen die Steigerungen ähnlich aus. Auch hier zählten die Kreise und die kreisfreie Stadt Suhl im Jahr 2015 deutlich mehr bedürftige Menschen als zehn Jahre zuvor.

Diejenigen, die nicht auf staatliche Hilfen angewiesen sind und Arbeit haben, profitieren ganz unterschiedlich vom Aufschwung. Im Jahr 2015 waren die realen Bruttolöhne der unteren 40 Prozent nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums deutlich niedriger als 1995. Arbeitnehmer im Billiglohnland Thüringen sind von dieser Ungleichheit besonders betroffen.

Belegen diese Zahlen, dass es in Deutschland doch nicht sozial gerecht zugeht? Was ist eigentlich soziale Gerechtigkeit? "In der Theorie reicht Chancengleichheit für soziale Gerechtigkeit aus", sagt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte dem Tagesspiegel . Die soziale Ungerechtigkeit sei oft eine gefühlte Ungerechtigkeit, die auch davon beeinflusst werde, dass Neid in Deutschland eine große Rolle spiele. Denn zumindest formell biete der deutsche Sozialstaat zahlreiche soziale Abfederungen.

"Die soziale Scheidelinie verläuft mehr denn je zwischen Arm und Reich", sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Soziale Gerechtigkeit lasse sich nicht allein über Chancengerechtigkeit erzeugen. Denn auch wenn alle Menschen theoretisch die gleichen Chancen zur Teilhabe an Bildung, Kultur und dem öffentlichen Leben hätten, so hingen diese Möglichkeiten heute von finanziellen Ressourcen ab. Die Reichen müssten deshalb höher besteuert werden.

"Soziale Gerechtigkeit ist vor allem Chancengleichheit", meint Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Wenn alle Menschen die gleichen Startchancen hätten, sei ein Staat sozial gerecht. "Dass einige Menschen in Deutschland so viel verdienen, ist jedoch nicht der Grund dafür, dass andere so wenig haben." Die soziale Ungleichheit entstehe vielmehr, weil untere und mittlere Einkommensschichten nicht genügend Teilhabemöglichkeiten am Produktivvermögen hätten.

Sozial gerecht ist eine Gesellschaft, wenn sie Chancengleichheit bietet. Dies ist der gemeinsame Nenner aller Parteien. Sogar die FDP, die in ihrem Wahlprogramm "Potenziale und die Energie jedes Einzelnen" beschwört, widerspricht dem nicht. Doch Chancengleichheit gibt es in Deutschland nicht. Heute tragen Kinder aus armen Haushalten ein hohes Risiko, schon sehr jung den Anschluss zu verlieren. Seit Jahren prangern zahlreiche Pisa-Studien diesen Missstand an. Deutschland investiert im Vergleich zu anderen europäischen Ländern deutlich weniger Geld in die Bildung. Während drei Viertel der Kinder deutscher Akademiker studieren, tut dies nur jedes vierte Arbeiterkind. Schon die frühe Trennung zwischen Gymnasium und anderen Schularten zementiert soziale Unterschiede.

Kinderarmut ist kein Randproblem. Das Armutsrisiko von Kindern ist in Deutschland nach neuen Zahlen auf einen Rekordstand gestiegen. Gut jeder fünfte Heranwachsende unter 18 Jahren ist von Armut bedroht, wie Zahlen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden zeigen. Thüringen liegt mit 17,2 Prozent im Mittelfeld aller Bundesländer.

Anita Mühlbauer und ihre Helfer kümmern sich auch um diese Kinder. "Wir schmieren Pausenbrote für zwei Schulen", erzählt die Tafel-Vorsitzende. Wer kein Frühstück habe, "bekommt es von uns". Die Rentnerin glaubt nicht, dass sie künftig weniger Arbeit hat. Was sie sich von der neuen Bundesregierung wünscht? "Es wäre schön, wenn der Staat uns ein wenig unterstützen würd e." Es wird wohl ein unerfüllter Wunsch bleiben.

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