Schmalkalden "Mama muss wieder nach Hause, egal wie"

Sven Köhler ist Papa. Neunfacher Papa. Der kleinste Sohn Edward ist gerade mal zwei Wochen alt. Seine Mutter Tessa hat das Baby nur ganz kurz kennenlernen dürfen. Ob sie ihn überhaupt jemals in die Arme schließen kann? Keiner weiß es.

 
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Schmalkalden - Es ist der 29. Februar 2020. Der Schicksalstag für eine Familie, die noch so viel geplant hatte. Sven Köhler erhält einen Anruf von seiner Frau Tessa. Sie hat Kopfschmerzen, er möchte doch bitte Tabletten mitbringen. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise beißt die 42-Jährige die Zähne zusammen. Wenig später ruft sie erneut an. Es geht ihr schlecht, sehr schlecht. Sofort lässt ihr Mann alles stehen und liegen. Der 54-Jährige will nur noch nach Hause zu seiner Frau. Ins Waldhaus, vier Kilometer nördlich von Schmalkalden, wo die Familie lebt, ganz abgeschieden im Wald. Sven Köhler weiß: Sie ist im vierten Monat schwanger. Daheim findet er Tessa im Badezimmer, sie liegt auf dem Fußboden. Umgehend wird sie ins Krankenhaus nach Meiningen eingewiesen. Der Befund ist ein Schlag ins Gesicht: Blutungen im Stammhirn.

"Die Ärzte haben damals gesagt, dass sie in Lebensgefahr schwebt. Und dass sie ins Koma fallen wird. Vier Tage ging es hin und her - immer ging es darum, ob sie operiert werden soll oder aber nicht", erinnert sich Sven Köhler an die nervenaufreibende Zeit. Am fünften Tag entscheiden die Ärzte, dass es ohne Operation nicht geht. Und sie warnen: "Ihre Frau wird nie wieder die sein, die sie mal war." Sven Köhler will nur, dass sie lebt. Und mit ihr das ungeborene Kind.

Daheim im Waldhaus, beim Vater, warten die anderen Kinder der Familie. Die Großen stehen inzwischen auf eigenen Beinen. Aber da sind noch vier jüngere Jungen und Mädchen, sechs, acht, dreizehn und fünfzehn Jahre alt, die nach ihrer Mutter fragen. Die auch betreut werden wollen. Für die jeden Tag einzukaufen, zu waschen, sauber zu machen, Hausaufgaben zu erledigen und viele andere tausend Dinge zu tun sind. Gott sei Dank sind Schwiegermutter Nikoletta und Petra Nowak, eine gute Bekannte, stets zur Stelle. Petra Kolbe kommt extra zum Bügeln. Sie alle helfen, wo sie nur können. Aber bei so einem großen Haushalt ist das trotzdem alles andere als einfach.

Zwischenzeitlich kommt Mama Tessa zur Reha nach Bad Liebenstein. Eigentlich nicht weit. Doch inzwischen hat die Corona-Pandemie so weit um sich gegriffen, dass weder Sven Köhler noch die Kinder zu ihr dürfen. Erst nach Wochen, am 25. Mai, als die junge Frau ins Helios-Klinikum Erfurt verlegt wird, darf ihr Mann wieder zu ihr. "Ich habe sie gesehen und war total erschrocken. Ich hätte sie auf der Straße nicht mehr wiedererkannt", erinnert er sich an den ersten Schock.

Seit der Operation ist sie nicht mehr aufgewacht. Sie leidet am so- genannten Locked-in-Syndrom, vergleichbar mit einem Wachkoma. Das bedeutet, dass sie geistig voll da ist, aber in ihrem Köper gefangen bleibt. Dass sie alles mitbekommt, weiß Sven Köhler. Denn wenn er ihr etwas erzählt, dann reagiert sie mit Tränen.

Tessa weint, wenn er ihr Videos von den Kindern vorspielt. Immerhin: Ein Auge kann sie öffnen. Jeder noch so kleine Fortschritt wird ein kleines Fest. Zwei Mal schon habe sie die linke Hand gehoben und ein Mal mit dem Daumen zugedrückt, erinnert sich Sven Köhler. Ob sie jemals wieder aufwacht? Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Vielleicht in einem Jahr, in fünf Jahren oder zehn Jahren?

Hier, im Erfurter Krankenhaus, bekommt die werdende Mutter beste Versorgung für sich und das Kind. "Ich hätte jeden Tag zu ihr gehen können", berichtet Sven Köhler. Aber der große Haushalt fordert seinen Tribut. So fährt er damals nur ein Mal in der Woche mit Schwiegermutter Nikoletta von Schmalkalden nach Erfurt. Der Termin der Geburt rückt näher. Am 15. Juli darf der werdende Vater noch einmal vor der Entbindung zu seiner Frau. Das Baby soll mit Kaiserschnitt geholt werden. Die Geburt verläuft erfolgreich. Edward kommt auf die Welt, das neunte Kind der Familie.

Direkt danach darf er mit dem Neugeborenen in den Aufwachraum zu seiner Tessa. Am nächsten Tag ist er wieder da. Für eine Nacht bekommt er ein Zimmer in der Klinik. Danach nimmt er den kleinen Edward mit zu sich nach Hause. Alle drei Stunden gibt er nun Fläschchen, wickelt das Baby und kümmert sich um den Rest der Familie.

Vor allem zu Lockdown-Zeiten war das alles hart. Da hat er die Kinder zur Schule mit den versetzten Unterrichtszeiten gefahren, mit ihnen Home-Schooling erlebt - bei vier Schulkindern in unterschiedlichen Klassen mehr als nur nervenaufreibend. Ganz nebenbei muss er sich um das alte Wohngebäude im Wald kümmern, das einst eine bekannte Ausflugsgaststätte war. Es muss dringend umgebaut werden. Denn sobald Ehefrau Tessa aus der Reha, zu der sie nun wieder gebracht wurde, entlassen wird, möchte er sie zu sich nach Hause holen. Zeitlich wird das aber leider nicht zu stemmen sein.

Ein paar Wochen, so rechnet Sven Köhler, muss sie in eine Wohngemeinschaft mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung. "Egal wie, du kommst wieder nach Hause", hat der Familienvater seiner Frau versprochen. Reagiert hat sie mit Tränen.

Aber anders geht es irgendwie auch gar nicht. Die Kinder fragen nach ihrer Mama. Er hat ihnen alles erzählt. Nun graut ihm vor dem ersten Kontakt seit jenem schlimmen 29. Februar. Denn die Jungen und Mädchen haben ihre Mutter seit Monaten nicht gesehen. Und wissen daher noch nichts von ihren Veränderungen. Wenn schon Ehemann Sven sie nicht erkannt hat ... Deshalb sucht er nun nach psychologischer Betreuung für seine Kinder.

Das nächste Problem ist das Geld. Beide Elternteile bekommen momentan nur 68 Prozent des Lohns als Krankengeld. Denn auch Sven kann derzeit nicht arbeiten, sonst wäre die Betreuung des Jüngsten nicht möglich. Das schlägt ins Kontor. Der Umbau für die Bedürfnisse der kranken Tessa muss finanziert werden. "Die 4000 Euro von der Kasse reichen dafür nicht aus", gesteht Sven Köhler. Und dann kommt noch das altersschwache Familienauto, ein Kleinbus, bei dem Reparaturen anstehen.

Die Sorgen des Mannes sind erdrückend. Und trotzdem schaut er nach vorne, daheim im engen Pfaffenbachtal zwischen Schmalkalden und Trusetal. "In der ganzen Situation sind wir noch gut dran, weil wir hier im Waldhaus leben und sich die Kinder viel im Freien bewegen können". "Das Leben geht weiter, es geht eben nur ganz anders weiter", sagt Sven Köhler. Aber auf jeden Fall hält die Familie zusammen. In guten wie in schlechten Zeiten.

Der Verein "Freies Wort hilft - Miteinander Füreinander" unterstützt die Familie Köhler mit einer Soforthilfe von 3000 Euro.

"Freies Wort hilft" nimmt weitere Spenden entgegen. Jeder Euro kommt ohne Abzug bei der Familie an und ist steuerlich absetzbar. Kontoverbindung: IBAN DE39 8405 0000 1705 017 017. Bitte Verwendungszweck "Waldhaus" angeben.

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