Thüringer helfen Wie geht es nun weiter ?

Ein tragischer Unfall im Familienauto mit Geschwistern und Mutter wird Anne-Sophie Ewald ihr Leben lang gesundheitlich zeichnen. Noch immer liegt sie in einer hessischen Spezialklinik. Zu ihrem 15. Geburtstag durfte das dauerhaft behinderte Mädchen an Ostern erstmals wieder für ein paar Tage zu Mutter Mandy, Bruder Tonny und Schwester Lindsay nach Wasungen.

 
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Es waren aufwühlende und tränenreiche Momente im Familienheim. Aber dennoch mit einem Hoffnungsschimmer für die Familie: Leser dieser Zeitung haben seit dem Aufruf vom 3. April bereits sagenhafte 37 400 Euro gespendet. Ein denkwürdiges Gespräch, bevor das Mädchen am Donnerstag wieder nach Frankfurt gebracht werden musste.

Frau Ewald, war das dieser Tage die erste Heimkehr Ihrer Großen seit dem Unfall auf der B19 bei Schwallungen im September?

Ja. Die Anne war ja bis Januar komplett weg im Wachkoma, hat bis heute nicht mitbekommen, warum sie überhaupt so schlimm zugerichtet ist seit dem Crash. Und folglich auch, warum sie in der Klinik in Frankfurt leben muss und nicht daheim bei ihren Geschwistern und der Mama in Thüringen sein darf.

Wir hofften manchmal schon, dass sie den unschuldig erlittenen Unfall langsam realisiert hat, weil ich ihr schon oft davon erzählt habe. Doch Annchen vergisst es durch ihre Hirnschäden wegen des Aufpralls immer wieder. Auch, warum sie nicht mehr gehen kann und laufend unkontrolliert unter sich macht. Die erste bewusste Autofahrt hierher zu Ostern und zu ihrem Fünfzehnten, seit sie im Januar aus dem Koma erwacht war! Übrigens: Es gab das nette Angebot eines hiesigen Taxiunternehmers, sie per Taxi heimzuholen - da danke ich sehr herzlich, aber …

Aber? Warum haben Sie das großzügige Angebot nicht angenommen?

Das können Sie mir glauben, das wäre gar nicht gegangen - ein Taxifahrer alleine mit ihr. Ich bin meinem Kumpel sehr dankbar. Der hat es auf sich genommen, mich und massenhaft dreckige Wäsche, die Winterkleidung den Rollstuhl und vor allem mein Töchterchen in den zum Schluss übervollen Windeln mit seinem Skoda-Kombi heimzubringen.

Es gibt ja nirgends Raststellen mit Wickeltischen, auf denen man einem fast erwachsenen Mädchen den Unterleib vom Kot säubern könnte … (weint).

Anne war die ganze Zeit sehr leise, wir sind ganz behutsam und langsam gefahren, weil wir ja überhaupt nicht wussten, wie ihr Gehirn diese Eindrücke des Autofahrens verarbeitet, die für sie wieder neu waren. Und eben, wie sie nach ihrer teilweise heftigen Amnesie alles verarbeiten und begreifen würde.

Auch die vollen Windeln musste die Fünfzehnjährige ertragen, bevor ich sie daheim endlich säubern und komplett neu einkleiden konnte. Kein schöner Anblick und Gedanke, dass sich das wegen ihrer neurologischen Verletzungen wohl kaum wieder ändern wird.

Hat sich denn die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers gemeldet und gefragt, welche Unterstützung Sie benötigen?

Ach, wo denken Sie hin. Es ist doch alles erst sieben Monate her ... Der betagte Unglücksfahrer, Taxifahrer, hatte sich ja entschuldigt. Aber meine Kinder und ich hätten uns mal gewünscht, jemand von der Versicherung, vom Vermieter oder den Behörden wäre gerade eben dabei gewesen, als wir unsere Anne in den dritten Stock gehievt haben.

Sie hat viel Kraft verbraucht, um sich mit unserer Hilfe Stufe für Stufe hochzuwinden. Weil’s im Rolli nicht machbar ist bis da rauf, wo wir in unserer Vier-Zimmer-Wohnung leben. Es bedurfte viel Ermutigungs- und Überredungskunst durch uns von einem Treppenabsatz zum nächsten. Gut 15 Minuten Aufstieg unter Schmerzen. Aber mit dem Lohn, dafür endlich ihr vertrautes Zimmer wiedererkannt zu haben.

Am Mittwoch mussten Sie im Meininger Klinikum vorstellig werden, schon am Donnerstag um elf ist Termin in Frankfurt. Warum so Schlag auf Schlag?

Im Meininger Klinikum sind ja Annchens behandelnde Ärzte. Dienstag, beim Röntgen dort, das sehr anstrengend war, hat meine Große wieder angefangen zu weinen. Sie versucht ja, tapfer zu sein, zu begreifen, was alles um sie herum und mit ihr passiert ist und passiert.

Ich stelle mir vor, schlagartig eingeschlafen zu sein und beim Aufwachen geht der Alptraum erst los, ist um einen herum nichts mehr, wie es war: Man liegt schwer gezeichnet und hilfebedürftig in der fernen Großstadt, statt in Wasungen um den Wohnblock zu ziehen …

So muss es Annchen gehen, seit diese Region im Hirn geschädigt worden ist, die für die Erinnerung verantwortliche. Nun muss sie hier noch zu einer Schlüsselbein-OP und zu einem Eingriff am rechten Bein. Der Meininger Chefarzt meldet sich bestimmt, wie es weitergehen soll.

Aber die Entlassungsbedingungen in Frankfurt geben die dortigen Mediziner vor?

Tun sie. Schön, dass sie sich so für mein Kind in der Verantwortung sehen. Aber meine Verantwortung? Die heißt jetzt, wirklich umgehend und dabei besser schon gestern als heute vom dritten Stock runter in die freie Parterrewohnung ziehen. Sofort nach den Corona-Einschränkungen muss das passieren, die ja momentan alles noch zusätzlich erschweren.

Wissen Sie, wir sind unserem Wohnungsvermieter ja dankbar, dass er längst auch weiter denkt, dass er einen Durchbruch zur benachbarten Parterrewohnung im gleichen Aufgang schaffen will. Das würde dann mal Annchens eigene Wohnung mit uns in Rufweite werden. Denn hier wegziehen in eine schon existierende barrierefreie Wohnung - das wollen weder ich noch die Kinder mit ihrer Schule hier. Die Caspar-Neumann-Straße ist doch ihr Daheim.

Wohnen wir erst unten, dann lassen die Ärzte in Frankfurt sie auch heim. Danach kann der Umbau der Nachbarwohnung beginnen. Auch wenn er Dreck macht.

Wobei wir die Kosten dafür nie stemmen könnten: 77 000 Euro, sagt der Kostenvoranschlag. Das zu finanzieren, das ist weiter weg, als die Rückseite des Mondes (lacht) . Obwohl ich bald wieder in meiner Autoteile-Firma arbeiten gehen möchte.

Unser Hilfswerk hat vorgeschlagen, dass der Vermieter investiert und die Kosten dann langfristig auf die Miete umlegt.

Ja, das wäre eine Möglichkeit, wenn er das will. Es sei denn, die Versicherung erkennt endlich nach so langer Zeit die Haftpflicht ihres Kunden an und stellt uns halbwegs schadfrei wie vor dem Unfall (weint) . Wenigstens finanziell. All die Schmerzen, die Traurigkeit, das Ausgeschlossensein vom annähernd sorglosen Leben junger Mädchen in ihrem Alter … Es gibt keine echte Wiedergutmachung.

Wurden Sie und Ihre Kinder mit Anne im Rollstuhl eigentlich mal in der Öffentlichkeit erkannt und angesprochen?

Ja, wir wurden oft mitfühlend, tröstend angesprochen. Zum Beispiel auch, als die Kinder auf dem leeren Penny-Parkplatz Inliner fuhren und ihre Anne im Rolli herumkurvten. Das tat uns gut.

Apropos guttun: Womit könnte man Ihrer Großen seitens "Freies Wort hilft" noch nachträglich ein Geburtstagsgeschenk gegen ihr Frankfurter Klinik-Heimweh machen ?

Einen Geburtstagswunsch? Wir haben Annchen gefragt, Antwort: Es soll nur alles wieder so wie früher werden. Ein Früher, an das sie sich nach der Entlassung im heimatlichen Umfeld hoffentlich langsam wieder erinnern kann. Meine Große wollte auf dem Rettungswagen Assistentin werden, sie mag Orchideen ... Aber wir überlegen uns da gern noch etwas. Nur: PC-Spiele oder so was. Das ist rum, geht nicht! So was überanstrengt sie wegen der neurologischen Unfallfolgen sehr schnell.

Haben denn Annes Geschwister jetzt die Verbindung zu ihrer großen Schwester wiedergefunden?

Na klar. Hier, sehen Sie sich mal meine Handybilder von dieser Woche an. Die Geschwister waren ja auch schon besuchsweise in den Kliniken bei ihrer schwerkranken Schwester. Es wäre aber blauäugig zu sagen, dass die häusliche Rasselbande von einst auch künftig noch so locker miteinander umgeht. Bissel anspruchsvoll für Tonny und Lindsay, geschweige denn für andere Freundinnen und Freunde, ist das schon: Wenn die Große mangels Stuhlgang-Steuerung im Gehirn immerzu in die Windeln macht.

Ich trau’ mich jetzt gar nicht, Ihnen das vorläufige Super-Spendenergebnis der Leser beim Verein "Freies Wort hilft" einfach so zu verklickern: Schon über
37 000 Euro von nahezu 500
Spenderinnen und Spendern!

Nicht wirklich - echt jetzt? Sie müssen uns Ewalds bitte unbedingt helfen, unser herzliches Dankeschön zu formulieren. Ich kriege das nie so hin, wie es angemessen wäre.

Stattdessen bin ich immerzu am Weinen, wenn ich die Bilder von vor dem Unfall sehe: Vor meinem inneren Auge und hier auf der Handykamera. Wie uns im September die fröhliche Rückfahrt vom Schuhkaufen zum Verhängnis wurde, als es wegen der Eselei eines Anderen gekracht hat. Wenn ich manchmal vergleiche, wie es war und so nie wieder wird ... Manchmal will ich fast kapitulieren. Auch beim Grübeln, gegen wie viele Wände ich jetzt noch anrennen muss, obwohl ich null Schuld hatte.

Mich überfordert auch die überwältigende Spendenbereitschaft und Solidarität der Leserschaft. Und das, wo doch durch Corona die halbe Welt inzwischen ganz, ganz andere Sorgen hat, als die von uns vier Ewalds. Aus ganzem Herzen danken wir Ihnen!

Interview: Klaus-Ulrich Hubert

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