Wasungen "Ich gucke immer noch ängstlich bei jeder Kreuzung"

Lindsays Schwester Anne-Sophie im Wachkoma zu Jahresbeginn. Fotos:uhu Quelle: Unbekannt

Die elfjährige Lindsay erinnert sich an den Unfall, als sei er gestern gewesen.

 
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Mit elf Jahren ist Lindsay das jüngste von drei Kindern der Familie Ewald aus Wasungen. Am 14. September 2019, auf fröhlicher Heimfahrt über die B 19, saß sie hinten im Kleinwagen ihrer Mutter. Die hatte ihre Kinder in Schmalkalden mit neuen Schuhen eingedeckt. Nur Lindsay blieb nach dem Unfall bei Bewusstsein. Sie möchte unbedingt ihr Erinnern an das schlimme Erlebnis auch außerhalb der kinderpsychologischen Betreuung mit anderen teilen. Sie weiß noch genau:

"Ein schöner Tag bis dahin. Ich konnte vom Rücksitz aus relaxed das Werratal beäugen. Neben mir mein Bruder Tonny, der beim Autofahren immer einschläft. Vorn auf dem Beifahrersitz unsere große Schwester Anne-Sophie. Dann fährt plötzlich dieses Taxi übers Stoppschild der Straße, die bei der Kompostanlage Schwallungen auf die B 19 führt. Das Polizeigutachten bestätigte unserer Mama später, dass sie nur 1,2 Sekunden Reaktionszeit hatte. Eigentlich nix, um darauf zu reagieren, dass man ihr die Vorfahrt nahm.

Für mich war das alles in Zeitlupe. So, als wäre ich eine außenstehende Zeugin, hätte gar nicht in unserem kleinen grünen Lupo gesessen. Ich krieg’s seitdem nicht mehr aus dem Kopf raus. Hatte doch alles bewusst miterlebt. Als einzige von uns.

Mein Bruder Tommy verschlief den Aufprall sozusagen. Mama war nicht mehr ansprechbar, als ich sie fragte: Was war das denn jetzt? Ich schnallte ihren Gurt ab, sie hatte viele Brüche, ihr rechter Arm baumelte runter, sie war ohne Bewusstsein. Dann holten uns liebe Helfer vorsichtig aus dem Schrotthaufen. Meine Schwester Anne-Sophie hatte es vorn am übelsten erwischt. Das müssen Schmerzen gewesen sein! Ich wollte sie noch von hinten an der Schulter rütteln, irgendwas fragen. Da war sie aber schon im Koma oder so, reagierte nicht mehr. Auf ihrer Seite vorn war ja das Taxi reingekracht, hat alles zusammengeschoben. Ihre Beine, das Becken, ihr Kopf… So was habe ich noch nie gesehen!

Dann qualmte es im Auto, überall war Bremsflüssigkeit verteilt. Und unser Annchen… die wollte mal Sanitäterin auf einem Rettungswagen werden. Als der dann kam, hatte man uns auf Decken neben die Leitplanken gelegt. Nun spürte ich auch meine Beinverletzungen. Mein erster Flug im Leben war der gleich danach im Hubschrauber. Ich wollte gern mit Mama ins gleiche Krankenhaus. Aber wegen der vielen, vielen Verletzungen hat man uns auf mehrere Kliniken aufgeteilt, mich nach Suhl.

Meinen Mords-Bammel vor Autofahrten bin ich danach kaum wieder losgeworden. Das ging schon bei meiner Abholung aus dem Klinikum los, als mir klar geworden war: So was wie mit dem Taxifahrer - wer erlaubt denn einem 78-jährigen Opa noch solch einen Beruf - kann einem doch schon an der nächsten Ecke ähnlich wieder passieren. Bei einer Fahrt zur kinderpsychologischen Therapie neulich, da kurvte ein Lkw auf der Gegenfahrbahn so komisch herüber.

Mama bittet auch immer noch Leute, die uns zu Erledigungen und Arztterminen bringen, nicht an der B 19-Unfallstelle vorbeizufahren, sondern den Weg durch Schwallungen hindurch zu nehmen. Und ich gucke nun immer noch ängstlich bei jeder Straßeneinmündung, dass da nicht wieder jemand Gas gibt und losfährt - auch wenn wir eigentlich wie damals voll die Vorfahrt haben. Auch wenn ich mich sehr freue, dass wir unsere Anne bald für’n paar Tage zu ihrem 15. Geburtstag aus ihrer Klinik in Frankfurt nach Hause holen könnten."

Lindsay wird im Dezember zwölf. Nicht erst, seit die Familie nun vor einem Umzug und Wohnungsumbau steht, kennt die angehende Gymnasiastin ihren Studien- und Berufswunsch schon seit Langem: "Innenarchitektin, was sonst?" uhu

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