Themar Viele Gesichter des Unglücks

Klaus-Ulrich Hubert
Nur noch mit Helfern wie hier Mutter Jacqueline (unten) und Freundin Marie kommt Anna-Maria Hähnel aus ihrer Wohnung ins Freie zu ihrem extrabreiten Rollstuhl. Ein Plattformlift könnte Abhilfe schaffen. Foto: uhu

Die alte Weisheit "Ein Unglück kommt selten allein" trifft es im Fall von Anna-Maria Hähnel aus Themar nur unzureichend. Um ihr krankheitsbedingtes Verzweiflungs-Knäuel zu entwirren, benötigt sie Hilfe.

 
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Themar - So viel bitterer Humor ist Anna-Maria Hähnel geblieben: "Hallo, schön, dass Sie herkommen wollen. Ich kann Ihnen zwar nicht aufmachen, aber auch nicht davonlaufen." Das antwortet mir die erst 32-Jährige am Telefon, als ich einen Recherchetermin vereinbare. Ihrer leisen, dünnen Stimme ist anzumerken, wie sehr sie Sprechen anstrengt. Die junge Frau kennt nach vielen Leidensjahren mit ebenso vielen medizinischen Fehldiagnosen erst seit einem schweren Verkehrsunfall im Jahr 2006 die Ursachen für ihr Kräfte fressendes Hauptleiden.

"Voranschreitender, unheilbarer Muskelschwund" wurde lange Jahre als Bandscheibenvorfall abgetan. Bis eine Überweisung in die Humangenetik des Uni-Klinikums Jena nach langen, gründlichen Untersuchungen den Verdacht auf Muskeldystrophie bestätigte.

Von vielen relativ seltenen Fällen wie denen des Typs Kiener-Becken DD oder auch Gliedergürteldystrophie schrieb bei ihrem Hilferuf Anna-Marias Großmutter, Brigitte Pelm, an "Freies Wort hilft". Zunächst vor ihrer Tochter Jacqueline Ehrenberger (54) und deren schwer krankem Kind Anna-Maria geheim gehalten, die all ihr Unglück nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten wollten. Ihnen wurde klar, dass die Anfänge der Krankheit weit in Anna-Marias Kindheit, Schul- und Ausbildungszeit zurückreichen. Den Begriff des Mobbings gab es da noch nicht. Aber dessen schwache, erbarmungswürdige und körperlich hinfällige Opfer schon.

Nun öffnen mir die freundliche Seniorin Brigitte und deren Tochter Jacqueline mit der liebenswerten Freundin Marie. Draußen ist es sommerlich warm - und in der (zusätzlich beheizten) Untergeschosswohnung der schwer beeinträchtigten Anna-Maria? "Für die meisten Menschen unerträglich warm", so entschuldigt sie sich. Das Zimmerchen im sanierungsbedürftig gekauften, noch abzuzahlenden alten Haus ihrer Mama ist seit Jahren ihr kleiner Alltags- und Lebensradius.

"Ich muss mich auch entschuldigen, dass ich schon wieder friere, obwohl im Zimmer 25 Grad sind. Alles Krankheitsfolgen, nur leider nicht die einzigen. Und im Winter kann ich nicht mal für Minuten raus, weil mir Kälte Schmerzen verursacht", erzählt Anna-Maria. Immer wieder fließen Tränen, während sie im langen Gespräch von ihrer erst 14-jährigen Freundin Marie, ihrer Mutter und der Oma Trost und Umarmungen erfährt.

Als ein Foto die Krankheitsbilder Anna-Marias dokumentiert, wird auch klar, warum ihr stets mindestens drei Helfer zur Seite stehen müssten, um mit ihr im extrabreitem Rollstuhl ans Tageslicht zu gelangen. "So, bei drei das rechte Bein auf die erste Stufe heben. Uuund los!", koordiniert Jacqueline die anderen beiden Helferinnen. Die Großmutter stützt Anna-Maria gegen das Vornüberstürzen, die Freundin schiebt die junge Frau am Unterleib aufwärts.

Immer die Wand entlang

Später wird Anna-Maria ihre allerletzten Kraftreserven aufwenden, um zu zeigen: "Im Haus einige Meter immer an der Wand gestützt entlang- zschleichen, ist das einzige was manchmal noch geht." Denn vor allzu "üppiger Selbstständigkeit" warnt Mama Jacqueline. "Vorn am Eingang haben wir eine Art Mobilkran, mit dem wir Anna-Maria vom Boden hochhieven, wenn sie wieder wegsackt."

Großmutter Brigitte erinnert sich, dass ihre Enkelin "schon in frühsten Kinderjahren beim Hinfallen immer übel vornüber gestürzt war. Weil sie beim Straucheln - anders als jeder gesunde Mensch - ihre Arme nicht reflexartig zum Schutz nach vorn bekam." Da musste "das mit ihrem Muskelverfall längst begonnen haben", sagt Mutter Jacqueline.

Wieder auf ihrer buchstäblich rettenden Couch im Wohnzimmer niedergelassen, weint Anna-Maria bitter und erschöpft. Denn beim Thema Kindheit und Jugend fallen ihr sofort die schönsten Momente ein: "Draußen, wo wir bis zum Einzug hier, vor 20 Jahren, noch in Kloster Veßra wohnten, da hatte ich ein Pferdchen zu betreuen. Ganz für mich. Nur reiten konnte ich es nie."

Weitere Tränen, als die junge Frau von ihren "rund um die Uhr anwesenden Freunden" spricht. Ein Katzen-Duo, Hund und sogar Schlangen im Terrarium… Ihre Mutter sagt, als müsse sie das Reitverbot rechtfertigen: "Erinnere dich an dein erstes Rad, Mädel. Du bist einfach hilflos mit dem Ding umgeplumpst."

Mutter Jacqueline arbeitet, so oft ihr kein unaufschiebbares "Not-Aus" wegen der Tochter mit Pflegestufe IV dazwischenkommt, in der Altenpflege. Ein Knochenjob, der nicht nur leichtgewichtige Pflegefälle kennt. Dass ihre erst 32-jährige "Kleine" zudem mit der Krankheit Elephantiasis leben muss, sprengt indes jegliche Vergleichbarkeit. Die abnormen Vergrößerungen von Körperteilen durch Lymphstau potenzieren die Wirkung des schlimmen Muskelverfalls. "Medikamente zur Körperentwässerung wurden mir lange versagt. Dann musste ich sie wegen einer anderen Geschichte einnehmen. Sie halfen mir - quasi als Nebenwirkung - auch meine Wassereinlagerungen aus dem Gewebe zu bekommen", erzählt Anna-Maria.

Die Frage nach "der anderen Geschichte" hätte ich besser nicht gestellt. Denn die Antworten schütteln Anna-Maria nun extrem durch und durch. Ein Unglück kommt selten allein? Bei der jungen Frau reichen die Finger beider Hände beim Mitzählen nicht mehr, als sie von "Lungenquetschungen, Splitterbrüchen, Oberarm- und Schlüsselbeintrümmerbrüchen, Nervenschädigungen, posttraumatischem Belastungssyndrom sowie zahlreichen Drähten und Metallplatten" in ihrem Körper berichtet.

Leser dieser Zeitung erfuhren am 19. November 2006 von einem Unfall am Suhler Autobahndreieck. Anna-Maria, schwer verletztes Opfer, aber erst viel später. Als sie aus der Narkose aufwachte, wurde ihr bewusst, wie es nun um sie bestellt war.

"Unser 3. Hochzeitstag"

"Mein Mann am Steuer, draußen dunkel, Regen… Ihn hat nur ein Knöchelbruch erwischt, mich das volle Programm. Aber ich überlebte, auch wenn meine Nerven im rechten Arm so wie unser Auto Schrott waren. Unser dritter Hochzeitstag war das, nach dem wir uns schon Jahre kannten und liebten." Das alles erzählt Anna-Maria sehr um Fassung bemüht. Der heftige Airbag-Aufprall hatte auch ihre bis dahin gesunden Augen schwer geschädigt.

Dass die junge Frau in vielerlei Hinsicht Schmerzpatientin ist, schließt zu allem Unglück noch einen so wohl kaum erwarteten Seelenschmerz mit ein. Wieder Tränen, die unsere fünfköpfige Gesprächsrunde anstecken. Dann nimmt Mutter Jacqueline ihrer so vielfach gepeinigten Tochter das Erklären ab: "Ihr Mann ist davon. Er meinte zwar, meine Tochter - als Mensch und Person - immer noch zu lieben. Aber er könne halt nicht mehr mitansehen, wie Anna-Maria dahinvegetiert…"

Vom Ehemann allein gelassen, findet Anna-Maria aber auch jetzt noch beschwichtigende Worte für ihn: Wegen der "Ehrlichkeit, mir nichts vorzuheucheln. Dafür darf ich bei alledem nun umso intensiver erleben, wie meine Familie und - verbliebene - Freunde bemüht sind, mir das Leben so erträglich wie möglich zu machen."

Freundin Marie Drößmar streichelt Anna-Maria mit ihrer Hand übers Gesicht. Sonst sitzen neben ihr sehr oft Ulrike Böttcher und deren Tochter Lena, helfen im Haushalt und bei 1000 Erledigungen.

Großmutter Brigitte Pelm und Mama Jacqueline versuchen - so wie Anna-Maria - selbst im Unfall am Suhler Dreieck noch "wenigstens diesen einen glücklichen Umstand" zu sehen: "Nur durch die Untersuchungen nach dem Autobahn-Crash ist schließlich die Muskeldystrophie entdeckt worden."

Mögen deren besondere Unterarten auch heute noch als nahezu unheilbar gelten: Der Umstand, dass Anna-Maria bislang ohne besondere technische Hilfsmittel die Teilhabe am Leben außerhalb der eigenen vier Wände versagt bleibt, ist "heilbar".

Der jungen Frau die Teilhabe am (Außen-)Leben zu ermöglichen, wäre auch diesmal ein erster Schritt: Es geht zuerst um die Überwindung von ganzen 70 Zentimeter Höhenunterschied aus ihrer Wohnung
zum Fußweg per Plattformlift. Und Autos, in die Rollstühle passen, ohne sie immer wieder auseinandernehmen zu müssen, sind auch längst erfunden.

Bitte nennen Sie in der Überweisung als Zahlungsgrund "Anna-Maria", wenn Sie der jungen Frau helfen möchten. Das Spendenkonto unseres Hilfsvereins "Freies Wort hilft - miteinander füreinander" bei der Rhön-Rennsteig-Sparkasse hat die IBAN: DE 39 840 500 001 705 017 017.

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