Thüringer helfen Hat Hand und Fuß und Herz

Klaus-Ulrich Hubert
Rund die Hälfte der besonders aktiven Meininger Nachbarschafts-Helfer nach der "Lagebesprechung" in ihrem Treffpunkt Am Mittleren Berggraben 6: Siegfried Oeser, dessen Frau Waltraud Maschur, Waltraud Seyd, Hildegard Heidler, Erika Bertuch sowie Jörg und Beate Marwede stehen trotz Hitze gleich wieder wichtige Stunden an der Seite hilfebedürftiger Mitmenschen bevor. Sie haben dennoch Spaß an ihrem Ehrenamt. Foto: uhu

Erst seit vier Jahren gibt es Meiningens Nachbarschaftshilfe-Verein. Unter den bereits 32 Mitgliedern nimmt gut die Hälfte intensiv dieses mitmenschlich sehr fordernde Ehrenamt wahr. Das hat Hand und Fuß.

 
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Jetzt bloß keinen Schritt zu viel draußen unter freiem Himmel. Das Thermometer zeigt seit Tagen hochsommerliche Rekordtemperaturen, heute im Schatten fast 35 Grad. Doch für Siegfried Oeser, dessen Frau Waltraud Maschur, Waltraud Seyd, Hildegard Heidler, Erika Bertuch sowie Jörg und Beate Marwede beginnen jetzt gleich wieder wichtige Stunden an der Seite hilfebedürftiger Mitmenschen; nicht nur bei unmittelbaren, sondern auch entfernter wohnenden Nachbarn.

Die warten längst darauf, dass sie das Klingeln an der Haustür oder das Vorfahren des Autos hören, das ihnen signalisiert: Die Nachbarschaftshilfe Meiningen ist da. Jetzt können wir gemeinsam zu Erledigungen - von Ämtern, Ärzten bis zum Einkauf aufbrechen, nach dem undichten Waschmaschinenschlauch sehen oder die gewaschenen Gardinen wieder aufhängen. "Oder aber: Die schönen Stunden des Zuhörens und Erzählens beginnen nun mit uns Nachbarschaftshelferinnen und -helfern", sagt Waltraud Maschur. Und ergänzt: "Sehen sie, nach über 60 Ehejahren scheint selbst in besten Ehen irgendwann alles gesagt. Da freut sie sich, jemand scheinbar Fremdes und dennoch Vertrautes zur Seite zu haben, der oder die dennoch zuhört. Indes er sein Hörgerät runter regelt: Alles schon hundert mal gehört!"

Aber miteinander zu reden, jemanden zum Zuhören zu haben, das sei doch weit mehr als nur Informationsaustausch. Das sei zuzahlungsfreie Medizin, die kein Schöne-neue-Welt-Humanroboter Alexa oder ähnliches leisten könne, schmunzelt eine der Frauen in der Mittagsrunde.

"Siggi, erzähl von Stepfershausen", ermuntert Koordinator Jörg seinen 75-jährigen Mitstreiter Siegfried so, als wolle er spöttisch sagen: Und all das dort von dir erlebte durch einen Humanroboter ersetzen? Während man bei Hilfen für Menschen im Meininger Stadtteil Jerusalem quasi gleich um die Ecke zu "Heimspielen" aufbreche, da "übernahm ich vor zwei Jahren beispielsweise in Stepfershausen diese wackere aber gehbehinderte 81-jährige Dame mit ihren vielen Krankheiten", so Siegfried, der erläutert, sie habe früher schwer gearbeitet.

"Zuerst stand sie ja nur für Dienstag und Donnerstag in meinem Kalender. Doch bald hatte sie gesundheitlich so viel durch, dass die beiden Tage nicht mehr ausreichten. Dann, im Vorjahr noch eine Augen-OP. Zu der hatte ich sie gleich frühmorgens nach Suhl begleitet."

Siegfrieds "Ja" auf die Frage "Und alles mit ihrem privaten Pkw?" bekommt ein "Aber", denn "die Ersatzkasse spielt gut mit, es gibt Aufwandsentschädigungen. Dennoch bräuchten wir bald ein Vereinsauto, mit dem wir auch unseren Pkw-Anhänger ziehen können: Der wird vom Wegfahren von Grünschnitt bis hin zum Transport von Malerutensilien und noch viel mehr benötigt."

Koordinator und Vereinsvorsitzender Jörg Marwede erinnert sich an seine Anfänge mit der Nachbarschaftshilfe: "Mindestens fünf mal die Woche war ich bei dieser 65-jährigen Frau: Die war alleine, verwitwet, ohne Kinder, wenig Geld, aber viel Zahnarztbedarf."

Vereinsauto wäre toll

Drin in der Küche des Treffpunkts der Nachbarschaftshilfe in der Jugendstil-Villa Am Mittleren Rasen 6 bleibt die Hitze noch halbwegs draußen. Wie bei einem Familientreffen mit der Heimatzeitung geht's dort an einem großen Küchentisch zu, als Siegfried Oeser vor der "Lage- und Dienstplanbesprechung" für alle seine Pasta mit selbstgemachtem Letscho auftut. Siegfried ist 75, seine Partnerin Waltraud Maschur vier Jahre jünger. Aber beide wirken und werden mit ihrem Ehrenamt in der Nachbarschaftshilfe sichtlich jünger.

"Zu der sind wir durch unsere Hospizhelfer-Tätigkeit gekommen, weil wir eines Tages selber etwas Hilfe brauchten", schmunzelt er. Damals sei es nur um praktische, handwerkliche Dinge gegangen. "Wir bauten unsere Garage um, bekamen als ü70-er keinen Kredit mehr. Doch wir hatten stattdessen viele Helfer, die uns mit einer Muskelhypothek zur Seite standen."

Meiningens Kirchenkreis-Superintendentin Beate Marwede und ihrem Mann Jörg sind der Stolz auf die "gern auch mal lustig beisammen sitzende und feiernde Truppe" jetzt richtig anzusehen: "Auf die tolle, mitmenschliche Hilfe, die die Nachbarschaftshelfer - übrigens keinesfalls nur gläubigen Menschen - angedeihen lassen." Obwohl das Engagement von vielen - auch jenen, die heute nicht zur Schichtberatung da sein können - im christlichen Glauben wurzeln.

"Wichtig ist, daran Freude zu haben. Sonst wird's auf Dauer nichts", sagt Jörg, studierter Diplom-Psychologe. Gerade heute muss sich dieser Grundsatz wieder dem Hitzebeständigkeitstest unterziehen, wo doch jeder von der heute siebenköpfigen Runde angesichts drückender Hitze am liebsten nur noch eines will: "In den Faultier-Modus schalten, Beine hoch" sagt Hildegard Heidler lachend.

Mitstreiterin Erika Bertuch ergänzt: "Und jetzt im Schatten oder an der benachbarten Werra abhängen und gar nichts tun." Aus dem Landkreis Gotha nach Meiningen in die Nähe ihrer erwachsenen Kinder gezogen, "assistiere ich zunächst, muss die Stadt, die Mentalitäten und sämtliche Gegebenheiten erst noch kennenlernen".

Wenn sie jetzt mit den anderen gleich wieder ausschwärmt, erinnert sie dies als geübte DDR-Bürger wohl ein wenig auch an "Timur und sein Trupp" in Arkadi Gaidars Jugendroman von 1940. Nur, dass damals Altersvereinsamung, Demenz oder Alltagshilflosigkeit noch nicht so thematisiert waren, die Generationen näher zusammen lebten. Timors Trupp war zudem auch deutlich jünger.

Doch gerade deshalb habe man wohl eher ein Gefühl dafür, dass - und wie - alte oder sonst irgendwie gehandicapte Menschen dankbar sein können. Wenn sie an ihnen herzliche Vertrauenspartner finden, die willens und in der Lage sind ihnen zur Seite zu stehen. Als helfende Hand in Alltagssituationen. Oder: Um sich allen Kummer und Schmerz vom Herzen reden zu können. Dann, wenn die Kinder oder Enkel längst weit weg von daheim sind, schnelle "Hallo, wie geht's?"-Besuche nur noch sporadisch nach Hause führen.

Bis in die Rhön

Koordinator Jörg Marwede kriegt rasch die wichtigsten Nächstenhilfe-Aufgaben zusammen und weiß dennoch, dass sie sich nicht einfach katalogisieren lassen: "Allein, wie viel Kraft man bei demenzkranken Menschen benötigt. Ob unsere Lisa, Brigitte, die Anna... Und fast jeder von uns kommt nicht ohne ganz ähnlichen Erfahrungen aus seinen Familien- und Freundeskreisen. Demenzkranke kennen oft keine Freunde oder Rücksicht. Solch eine böse Krankheit!"

Die ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe reicht inzwischen von Meiningen bis in die Rhön. Regionen, in denen durch Wegzug der Jugend das Durchschnittsalter dramatisch steigt. Andererseits haben auch jüngere städtische Familien Unterstützungsbedarf, weiß Hildegard Heidler. Eben dann, wenn die Eltern oder Großeltern zu weit weg leben. Oder schon Probleme hätten, mit den Enkeln mal Spielplätze zu erkunden, ein gescheites Computerspiel hin zu kriegen oder besser aber alte Märchenbücher wiederentdecken. Und heute mal ins Freibad zu gehen."

Das sei "unser Opa & Oma-Service eine feine Sache", sagt Koordinator Jörg. Der freilich künftig auch noch mehr jüngere Mitstreiter für die - übrigens amtlich zertifizierte Nachbarschaftshilfe - brauchen könnte.

Andererseits, so lacht Siegfried: "Außer unserem Jüngsten, dem Daniel mit 35 Jahren - sind wir zumeist ordentlich über 60. Dafür bringen wir auch ordentlich Erfahrungen für all das hier ein. Und Jörg guckt, dass sich keiner übernimmt, von der Hexe geschossen wird."

"Trotzdem", so ergänzt er mit fröhlichem Lächeln zwischen Ironie und einem Hauch Sarkasmus, dass geradezu nach jüngeren Mitstreitern ruft: "Unsere Lea-Sophie wird als Urenkelin bereits acht Jahre , wir haben fünf Kinder und acht Enkel, aber ich befürchte, dass es spätestens ab Urenkel-Generation kaum noch einen Draht zu dem gibt, was unsere Nachbarschaftshilfe ausmacht. Da wartet Arbeit und Nachwuchstraining auf uns, sage ich mal."

Bei der Nachbarschaftshilfe schützt eine Haftpflichtversicherung plus Absicherung bei der Berufsgenossenschaft das ehrenamtliche Tun. Vor Nachwuchsmangel schützt indes nur eine breitere Öffentlichkeit. So wie Ende August beim Sommerfest des Vereins: "Dem Dankeschön an alle Mitwirkenden für das zurückliegende Jahr engagierter Nachbarschaftshilfe", sagt Jörg Marwede beim Blick in seinen Kalender.

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