Viele Schleusinger Helfer
Das "Willkommen in Schleusingen" beginnt mit "W" wie bei "Wir schaffen das". Wird aber viel konkreter. Dessen waren sich beispielsweise Helfer mit langem Atem und offenen Herzen wie Adelbert Schlütter, Werner Neumann, Frank Eichler vom Schleusinger Stadtrat bewusst.
Bei den Tagungen des Koordinierungskreises kamen viele Probleme auf den Tisch, wurden Unterstützungsbitten und Vorhaben besprochen. Denn bei den allabendlichen Fernsehbildern aus aller Welt, die mancher als "Flüchtlingskatastrophe in Deutschland" wahrnahm, sollte dieses "Willkommen" aus Schleusingen nicht einfach nur postuliert werden. Es sollte nicht nur mit gutem Willen, ethischem Anspruch und Politiker-mäßig dahin gesagt sein.
Man war gut vorbereitet, als am 14. März 2016 - nach einer abenteuerlicher Flucht aus Balkh bei Masar-e Scharif nach Deutschland - die Afghani-Familien zuletzt aus Masserberg in Wohnungen am Schleusinger Markt unterkamen.
"Auch vielen hilfreichen Einwohnern und Schleusingens Bürgermeister Klaus Brodführer sowie den meisten Ämtern danke ich. Dem Schulamt Suhl sowie dem Kindergarten Schleuseknirpse und der Gerhart- Hauptmann-Schule", sagt Marzian. Denn wer aus dem umkämpften Afghanistan auf nächtlichen Schleichwegen und gefährlichen Tramptouren durch Pakistan, Iran und so weiter bis in die EU flieht, der tue dies vor allem auch seiner Kinder wegen.
Kinder sind Zukunft
Und für deren Zukunft. Eine ohne fast schon alltägliche Feuergefechte vor der Tür, ohne Minen- oder Bombenexplosionen, ohne religiös verbrämten Terror im Herkunftsland.
Nawab schenkt den Gästen Tee mit viel Zucker nach. "Wie sollte ich meinen kleinen Kindern sonst später mal erklären, warum wir bei der Chance zögerten, ihnen mal ein besseres, sicheres Leben zu geben?", sagte der 22-jährige Familienvater. Er konsultiert für die nächsten Sätze seinen "kleinen Deutschlehrer in der Hosentasche", wie er ihn nennt. "Mein Smartphone-Übersetzer."
Nawab erzählt vom Leben in Afghanistan: "Nachts? Immer in Angst. Immer offene Ohren, lauschen, wach bleiben. Je weiter man von der Stadt entfernt auf dem Land lebt, desto ferner die Sicherheit. Immer geladene Kalaschnikow unterm Bett. Falls die Bartmänner wieder kommen ..."
Maryam, die 52-jährige Witwe, und die anderen Frauen und Mädchen in der Temore-Familie bereiten jetzt für die beiden Gäste Reis und gebratenes Huhn. Sie bedauern, dass es so lange dauert. Ihr Propangaskocher ist nur zweiflammig. Herd und Spüle müssen erst noch installiert werden. Außerdem hat die lange nicht genutzte Wasserleitung Probleme. Wer kann sie reparieren? Heute Abend erreicht Thomas Marzian niemanden mehr in der Verwaltung. Morgen wird das seine erste Aufgabe.
Maryam könnte jetzt erzählen, warum die Angst nicht von ihr weicht. Sie schaut aber unterm Kopftuch nur betreten zu Boden. Es sei auch schon 16 Jahre her, dass ihr Mann ... dass ihn nachts die Taliban holten. "Und töteten!"
Nawab streichelt seinem anderthalbjährigen Sohn übers Haar, freut sich, dass Bildung für Jungs und Mädchen hier selbstverständlich ist. Sein Sohn, jüngster seiner Temore-Sippe, heißt Emran-Khan. Vor der Flucht kamen in den anderen Temore-Ehen 2014 Zahra und 2013 Farishta zur Welt. "Kindergarten, Schulpflicht und der vorurteilsfreie Kontakt mit Gleichaltrigen - was für starke Integrationshelfer sind das", sagt Marzian mit Blick auf die Mädchen. Beim Verabschieden wird er vom Familienältesten, Shawali, wieder wie ein Bruder umarmt. Und von dessen Kindern Laila, Mirwais, Feroz, Zarmena, Hassan und Gulmena sowie deren Cousins und Cousinen.
Shawali ist 56, Nawabs Vater und einen Kopf größer als Marzian, der den Zeigefinger hebt: "Vor-Urteile sind vorläufige Urteile. Kinder haben die ohne äußere Beeinflussung nicht. Sie würden nie von sich aus wegen Hautfarbe oder Herkunft anderen gegenüber ablehnend sein."
Aktiv in Vereinen
Längst sind die Gäste wieder bei Puste. "Uff, diese Fahrstuhl-freien Plattenbauten!" Hassan, der mit zehn Jahren den atemlosen Fluchtweg antrat und zunächst unwürdig in Ungarns Hauptstadt Budapest strandete, ahnt mit aufgewecktem Lächeln angesichts des eben noch schnaufenden Besuches: Jetzt sei ihm wohl mit der "Wie geht es"-Frage ein ungewollter Gag gelungen.
In der Wohnung hatte er uns Besuchern zuvor formvollendet und höflich seine Familie vorgestellt. Anfangs meinte ich noch, ich sollte mit ihm vielleicht besser auf Englisch sprechen - schließlich war Afghanistan einmal britische Kolonie. Aber Hassans dunkle Augen funkeln da nun noch mehr, als er stolz sagt: "Sprechen Sie doch ruhig Deutsch."
Um dem Nachdruck zu verleihen, präsentiert auch sein 2001 geborener Bruder Feroz stolz sein Deutschkurs-Diplom, Niveau A 2, also gute Grundkenntnisse: "Hier, in zwei Monaten geschafft. Ich will nämlich mal Krankenpfleger werden!" Und Hassan hebt die Hand zum Gruß an eine imaginäre Uniformmütze: Und ich werde Polizist. Unbedingt!"
Die Jungs der Temores sind in Schleusinger Vereinen keine Unbekannten. Vom ersten Beschnuppern der Feuerwehr, für die jedoch die Deutsch-Kenntnisse noch nicht reichten, bis zum Kennenlernen im Fußballverein SC 07. Mit der DRK-Wasserwacht schafften es allein fünf von ihnen bis zum Rettungsschwimmer-Abzeichen. "In Bronze", wie sie betonen.
Führerschein und Arbeit
Nawab schaut auf die Uhr: "Muss ich gleich zur Fahrschule. Letzte praktische Fahrstunde. Au, dann Prüfung!" Seiner Fahrlehrerin wolle er besser nicht erzählen, mit "was für Schrotthaufen ich daheim schon gefahren bin. Schwarz!" Tage später hält Nawab, nach teilweise vom Fahrschulinhaber Olaf Dobberkau gesponserter Ausbildung, den Führerschein in Händen. Da kommen die Cousins Feroz, Mirwais und Maryams Sohn Mohammad gerade wieder vom Austragen des Anzeigenblatts heim. Dobberkau hat für Nawab einen Montage-Job, der Fahrpraxis erfordert.
Beim Gehen weiß Thomas Marzian an diesem Abend erneut, dass es unbegreiflich wäre, Menschen wie "unsere Afghanis" abzuschieben, sollte deren auf drei Jahr befristeter Duldungsstatus abgelaufen sein.
"Willkommen in Schleusingen" hat nun längst neue Schützlinge.
"Sie hätten mal unseren Karimi sehen sollen, wie der bei Wind und Wetter täglich zur Arbeit von Schönbrunn nach Schleusingen geradelt ist", erzählt Thomas Marzian. Jetzt hat der Afghane dort Arbeit, um für seine Familie zu sorgen. "Die sind so ehrgeizig. Ich habe ein gutes Gefühl für ihre Zukunft hier."