Thüringer helfen Die Nummer 17 traut sich zurück

Von Klaus-Ulrich Hubert
Das Opfer am einstigen Ort des Horrors: Bern Schulz (Mitte) trifft sich mit den heutigen Heimleitern Berthold Ehling und Uwe Christ (von links) im Johannesstift in Ershausen im Eichsfeld. Ein freundliches Gespräch, dass allen viel Erleichterung verschafft. Foto: uhu

Nie traute sich Bernd Schulz wieder hinter die Klostermauern im Eichsfeld, wo er 21 Jahre gedemütigt und misshandelt wurde. Heute aber will er es wissen. Ermutigt und begleitet durch diese Zeitung.

 
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Ershausen - "Wir sind gleich da. Wir haben's gleich geschafft ", sagt Bernd Schulz aus Mühlhausen. Er zeigt inmitten der lieblich-hügeligen Landschaft des Eichsfelds hinauf auf den Hülfensberg. "Dort oben nahe Geismar, das war Grenzsperrzone. Und vom Kapuziner-Kloster dort kam dieser böse Gottesmann, der als Rektor des Waisenkinderheims St. Johannesstift mich und so viele andere Kinder drangsalierte. Der uns immer nach seinem Belieben schändete."

Seit dem Spätmittelalter diente der Berg als katholischer Wallfahrtsort. "Bis heute wohl", ergänzt Bernd, dem jetzt die Aufregung und der warme Frühlingstag den Schweiß auf seine hohe Stirn treiben.

Zumindest auf dem Hülfensberg war er ja schon mal vor Jahren. Mit seinem einstigen Berliner Leidensgefährten Ronald Warnowski. Einer wie er, der im Jahr 1944 mit fast 500 Berliner Kriegswaisen in St. Johannes "eingeliefert wurde in die Obhut der katholischen Kirche", wie er sagt.

Versöhnungstermin

Auch in die heutzutage einladenden, offenen und sehr schönen Außenanlagen des Johannesstifts habe er sich mit Ronald schon getraut. Der wollte heute eigentlich auch extra aus Berlin dazu kommen. "Schade, du drückst dich nicht etwa, Alter?", spricht Bernd ins Handy.

"Seit ich 1965 aus Ershausen endlich in die Freiheit durfte, fehlte es mir an Mut und Lust, den Tatort anzuschauen", sagt Bernd Schulz. "Wer würde uns denn heute noch ernstnehmen, uns glauben? Weil ja nicht sein kann, was nicht sein darf ."

Bernd nennt es den "harten Mörtel", mit dem die Mauern des Schweigens um alle Untaten von einst gebaut wurden. "Hinter denen behandelte uns das Personal, wie diese wuchtigen, wütenden Nonnen, so wie Dreck. Und dieser Waisenhausrektor, dieser teuflische Hülfensberg-Priester und Rentner, der machte auch noch Sexsklaven aus uns ... Mädchen und Jungen, streng getrennt voneinander. Wir hatten null Ahnung, was Sexualität überhaupt ist und was es im Menschenleben bedeutet. Sie hatten die Macht, wir das Erdulden. Und zwar besser still."

Bernd Schulz, dessen Leidensgeschichte wir in der Ausgabe vom 15. April erzählt haben, hatte diese Zeitung gebeten, ihn zu seiner Art Versöhnungstermin in Ershausen zu begleiten.

Er hat, mit Unterstützung des Weißen Rings, 5000 Euro Opferhilfe bekommen, dazu "Entschädigung" des Bistums, Rentennachzahlungen und so weiter . Aber heute hofft Bernd Schulz darauf, endlich den jahrzehntelangen finsteren Albtraum durch gute, menschliche Begegnungen mit den heutigen Kirchen-Männern im Stift verdrängen zu können. Eine herrliche Mai-Abendsonne über dem Stift und viele moderne Zweck-Anbauten tun das ihre dazu.

Bernd kriegt ein Lächeln im Gesicht zustande: "Hier, wo wir parken, war unsere Gärtnerei. Und dort hinten, neben dem Park mit Blumen - unserem früheren Wäldchen - ist noch der alte Bauernhof. Sieht aus und riecht fast noch wie damals. Ich hatte als Kind ein Abo auf das üble, schwere Schweinestall-Ausmisten dort beim Klosterbauern."

Heutige Betreuer bestürzt

Sofort stimmt den heute 72-Jährigen sein einziges "göttliches Wunder aus der Horror-Klosterzeit" noch etwas milder. "Weil ich oft neben dem Hundezwinger des Bauern saß, in meiner Erschöpfung und Angst so bitter weinte, presste sich sein Schäferhund durchs Gitter fest an mich. So wurden wir Freunde. So tröstete er mich einstweilen, bis wieder ..."

Bernd zeigt, wie der Kloster-Bauer von den Nonnen geholt wurde, um seinen Hund auf die Kinder zu hetzen: "Der aber? Legt sich neben mich, winselt, wedelt mit dem Schwanz. Als der Bauer ihn anbrüllt und auf die entsetzten Kinder ansetzt, geht der Schäferhund stattdessen auf Herrchen los!"

Eine Mitarbeiterin der 1884 als Stiftung gegründeten, heutigen gemeinnützigen Johannesstift-GmbH ist auf dem Weg zu einer Therapiegruppe. Sie sieht Bernd, fragt freundlich: "Zu wem kann ich sie bringen?"

Hier, wo heute 210 Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung leben, wohnen und arbeiten, hatte der 2015 aus dem Münsterland gekommene neue Geschäftsführer Berthold Ehling einem Gespräch mit Bernd und der Zeitung zugestimmt.

Nun geleitet Katharina Baudisch Bernd zu dessen Büro. Sie zählt dabei nach, kommt auf 37 Jahre, die sie als gebürtige Arnstädterin und gelernte Krankenschwester, Betreuerin und Begleiterin der Bewohner hier, mit spürbar viel Herz, aktiv ist.

Auf den ersten Metern seiner Wiederbegegnung mit den Innenmauern des einst so gefürchteten Grusel-Stifts liest Bernd Schulz eine Wandinschrift: "Freude am Leben - St. Johannesstift Ershausen". Katharinas spontanes "Ich arbeite hier sooo gern!" will Bernd eigentlich nicht ausbremsen. Als er dann aber doch erklärt, weshalb er hier ist und was viele Hunderte Kriegswaisen an seiner Seite hier zu erdulden hatten ... Katharinas Bestürzung findet im ersten Schock zunächst gar keinen Weg aus ihr heraus. "Bitte, hm? - Das wusste ich nicht!"

"Freude am Leben"

Der einzige dunkle Fleck in der Geschichte des Hauses wird auf dessen Internet-Homepage bislang auf 1938 datiert: "Heimbewohner ... Vernichtungstransport ... Opfer der grausamen Euthanasie."

Bernd hat inzwischen schon viel vom Hier und Heute, von vielfältigsten Angeboten und neuen Plänen des Stifts erfahren - im Geschäftsführer-Büro spricht er mit dem sympathischen Heimleiter und Heilpädagogen Uwe Christ.

Über das breite Angebots-Profil des Hauses staunt er. Das mit der "Freude am Leben" lässt ihn aber nochmal den Zeigefinger heben und schmunzeln. "Weil unser Bernd hier 20 Jahre ohne Namen und Akten für die Kirche nur die ,Nummer 17' war!"

Über heutige "Paradigmenwechsel vom Betreuen zum Begleiten der Menschen unterschiedlicher Behinderungen, aber auch Talente" resümiert Berthold Ehling nach gut einer Stunde die entwaffnend offenen Gespräche. Etwa über all die vielen Lern-, Therapie-, Freizeit und Arbeitsmöglichkeiten der Bewohner-Gruppen. Bernd hört fast ungläubig, es gebe nun sogar ein Beschwerdemanagement des Hauses samt Werkstätten und Kindergarten. "Deren Mitarbeiter", sagt Ehling, "haben uns das erweiterte polizeiliche Führungszeugnis vorzulegen, Eignungsüberprüfungen, Team-Supervision und Schulungen zu absolvieren."

Die Kirche will lernen

Bernd spricht Uwe Christ nun fast als Kollegen an, weil er schließlich nach all seinem Leid hier später in Mühlhausen zu seinem späteren Pflegeberuf kam. Und bis heute im Ehrenamt als gerichtlich bestellter Betreuer agiert.

Es klopft. Verlegen schiebt Katharina Baudisch den Kopf durch die Tür. Dann geht die Therapeutin beherzt auf Bernd zu, umarmt ihn, wischt sich dicke Tränen aus dem Gesicht. Und entschuldigt sich für etwas, das Jahrzehnte vor ihrer Zeit hier passierte, aber eben auch nie erwähnt, verfolgt oder gar gesühnt wurde.

Nein, "von Versöhnungsgespräch will ich nicht reden", sagt der neue Chef. Nach solchen Erlebnissen und der späteren Vertuschung "sei das schwer möglich", betont der 53-Jährige. "Wohl aber, dass man daraus lernen wird, hellhöriger und sensibler für das Thema zu sein".

Ähnlich klingt das aus dem Munde von Cordula Hörbe, der Beauftragten des Bistums Erfurt zur Prävention von sexueller Gewalt an Minderjährigen und Erwachsenen. Dessen Pressestelle stimmt rasch ihrem Statement zu: "Präventionsarbeit der katholischen Kirche orientiert sich am christlichen Menschenbild, bezieht die aktuellen Erkenntnisse der Forschung und langjährigen therapeutischen Arbeit ein, arbeitet europaweit mit kirchlichen Einrichtungen, Beratungs- und Forschungsstellen."

Cordula Hörbe ist die zweite Präventionsbeauftragte, hatte im September 2015 die Aufgabe übernommen. Wichtigste Aufgabe sei, die "Entwicklung des institutionellen Schutzkonzepts in allen katholischen Einrichtungen". Dabei "falsche Sorglosigkeit verhindern, erkennbare Schutzstrukturen zu schaffen", sei ihr Anliegen. Man wolle endlich mit "respektvoller Sorgfalt die uns Anvertrauten in ihrer Entwicklung fördern und ihnen Lebensräume anbieten, in denen sie sicher sind vor jeder Gefahr."

Ein Fest im Sommer

Wie wohl heute in Ershausen. Einer der im Vincenz-Haus untergebrachten Afghanistan-Flüchtlinge grüßt freundlich im Vorübergehen. Daneben werden schwer behinderte Rollstuhlfahrer im Innenhof von Pflegepersonal gefüttert.

Bernd schaut noch in die alten Klassenräume, in denen einst die Stöcke der Nonnen aufs die Fingernägel der Kinder krachten, wenn die den Katechismus nicht aufsagen konnten. Hier entstehen gerade Einzelzimmer mit eigenen Nasszellen.

"Hier? Da würde ich heute auch wohnen wollen", flunkert Bernd, der sich an seine vergitterten 25-Betten-Zellen von einst erinnert fühlt. Die Verabschiedung fällt herzlich aus.

Bernd Schulz hofft leise, aber nachdrücklich, dass das Grauen früherer St. Johannes-Schutzbefohlener ausgewertet wird. So wie es bei den Regensburger Domspatzen oder in westdeutschen Häusern der in Ershausen tätig gewesenen "Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vincenz von Paul" angeschoben wurde.

Und dann fragt Bernd Schulz tatsächlich: "Kann ich am 18. Juni zu ihrem großen Sommerfest kommen?"

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