Thüringer helfen "Du bist jetzt Familie"

Von Klaus-Ulrich Hubert
Sabine Scheidler und der Kellner Youssef Touati betrachten Bilder der tunesischen Familie und vom Urlaub in Tunesien. Foto: ari

Fast wären es die letzten Sekunden ihres Lebens geworden: Als Sabine Scheidler im Frühjahr 2014 den Blick über Tunesiens Nordostküste und Hammamet genießt, wird plötzlich alles schwarz.

 
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Erst jetzt, nach einem Dreivierteljahr, kann Sabine Scheidler wieder ihrer Arbeit nachgehen. Ein gefährliches Gehirn-Doppelaneurysma platzte während ihres Tunesien-Urlaubs 2014.

Die 53-jährige Anzeigen-Disponentin aus Dillstädt (Landkreis Schmalkalden-Meiningen) war dem Tod nahe. Mindestens aber war mit schweren irreversiblen Gesundheitsschäden zu rechnen.

Sie sei nicht gläubig, bilde sich auch nicht ein, dass "hier Jesus oder dort, im Arabischen, Allah mit mir besondere Pläne gehegt" hätte.

"Plötzlich schien mir jemand den Netzstecker gezogen zu haben. Von einer Sekunde auf die andere rauschte es in den Ohren und dann wurde es unendlich düster." "Die Ärzte haben mir später alle gratuliert. Sie sprachen von prozentual einstelligen Überlebenschancen. Riesiges Glück also."

Schnell in der Klinik

Gerade hat die zweite Urlaubswoche begonnen, in der Sabine Scheidler und ihre mitgereiste Freundin Claudia die Erholung genießen.

Es ist nicht ihr erster Besuch in der schönen alten Stadt Hammamet mit dem historischen Stadtkern. Sabine Scheidler schwärmt über "das rege Leben auf Straßen und Gassen, die große Moschee aus dem 15. Jahrhundert in der Medina, die Sidi-Gailani-Moschee aus dem 18. Jahrhundert, die vielen teilweise überdachten Marktgassen der Souks."

Aber vor allem die "unglaublich gastfreundlichen Tunesier, die ständige angenehme Meeresbrise" faszinieren sie. All das, was ab Anfang des 20. Jahrhunderts Europas Künstler - von Guy de Maupassant bis Oscar Wilde - zu den ersten touristischen Fans des einst unbekannten Fischerdorfes machte.

"Ich wäre an diesem Tag aus dem Leben gerauscht, mein Gehirn wäre im Blut ersoffen, hätte meine Freundin Claudia nicht so umsichtig gehandelt, so dass ich schnell in die Polyclinique Hammamet kam", sagt Sabine Scheidler.

Dann folgen viele arabische Namen, denen zu danken ihr ein riesiges Bedürfnis ist. "Ich verdanke Dr. Anis Kerkeni, Station Neuroradiologue Interventionnel, mein Leben. Solch ein Eingriff ist voller Risiken". Auch das Personal ihrer Station REA 3 habe sich unglaublich liebevoll um sie gekümmert: "Ich hatte absolut nichts dabei. Weder Wäsche, Zahnbürste, Auslands-Krankenversicherung, Handy. Sie waren dort trotzdem alle um mich besorgt, ohne zuerst nach der Krankenkassen-Card oder Bargeld zu fragen."

Sabine Scheidler muss schlucken: "Am Pfingstmontag dann reichte mir eine Schwester ihr Handy: Am anderen Ende eine vertraute, erschrockene Stimme. Meine Tochter Stefanie. In Meiningen! Wie hatte sie mich hier gefunden?"

Stefanie kennt zufällig einen tunesischen Arzt im Meininger Klinikum, Bechir Amara. "Der wusste, als sie ihm mein Unglück erzählt hatte, nur, dass ich irgendwo in Tunis liege." Der Meininger Arzt versucht per Telefon sein Glück. Schon nach dem dritten Versuch übergibt er Stefanie den Hörer: "Volltreffer, hier Deine Mama in Nordafrika am Apparat."

Sabine Scheidler sagt heute: "Unglaublich, oder? Plötzlich war ich nicht mehr allein in meinem Krankenbett, plötzlich konnte mich Stefanie über die privaten Handys des Pflegepersonals jederzeit fragen, ob's aufwärts geht, wann ich wieder reisefähig bin. Sogar Hichem, der Supervisor der Klinik, habe ihr mit den Worten "My phone is your phone" sein geliebtes Handy gereicht.

Am 13. Juni 2014 wird Sabine Scheidler aus der Spezialklinik wieder in die von Hammamet zurück verlegt. Dort muss sie weiter behandelt werden, bis ihre Gesundheit wieder soweit hergestellt ist, dass sie nach Hause fliegen kann. Aber schon für den nächsten Tag hat ihre Tochter einen Flug nach Tunesien gebucht, um endlich ihre Mutter in die Arme schließen zu können.

Dass dies so unkompliziert und schnell geklappt hatte, hat Stefanie auch "ihrem Lieblingskellner" zu verdanken. So nennen Mutter und Tochter Youssef Touati, der in einem großen Erfurter Italien-Restaurant arbeitet und seit 20 Jahren in Deutschland lebt.

Er hat dort den Spitznamen "Luigi". Und er hatte Sabine Scheidler immer mal wieder Tipps für ihre Tunesien-Urlaube gegeben. Nachdem Youssef Touati durch Stefanie über das Unglück ihrer Mutter erfährt, ruft er sofort seine Mutter und Schwestern in Hammamet an. "Von Youssefs Schwestern Monia und Hazna, die fast täglich meine Mutter besuchten, wurde ich am Flughafen Enfidha abgeholt", erzählt Stefanie.

Im Krankenhaus, während des Besuches bei ihrer Mutter, legen Youssefs Schwestern Stefanie und Sabine Scheidler die "Hand Fatima" in ihre Hände und sagen: "Du bist jetzt Familie". Die "Hand der Fatima" hat eine ähnliche Bedeutung wie das Kreuz im Christentum. Sie soll vor Unheil schützen.

Als Sabine und Stefanie auch noch von Youssefs Mutter Fafa auf das Feinste bekocht werden, spüren sie, dass all dies von Herzen kommt. "So viel liebe Hilfe von Menschen, die viel weniger Materielles als wir hier besitzen - da muss man einfach wieder genesen", sagt Sabine Scheidler.

In ihren Dank schließt Sabine ausdrücklich auch ihre fränkische Reise-Begleitung Claudia Hönicke und die Reiseleiterin Claudia Freytag ein.

Am 2. Juli 2014 darf Sabine schließlich wieder nach Hause fliegen, zur Weiterbehandlung ins Meininger Klinikum. Nicht mit Flugangst, aber "mit Bammel, ob ich wohl nach dem Aneurysma das Fliegen vertrage", schaut sie aus dem Flugzeugfenster auf das türkis-farbene Mittelmeer unter ihr.

Sie spürt nach all den Erlebnissen, dass sie gerade so etwas wie ihre zweite Heimat hinter sich lässt. Und sie weiß, dass über dieses Meer weiterhin hunderttausende Menschen vor Krieg und Not fliehen werden.

"Wut und Scham kochen in mir hoch, wenn ich heute erlebe, wie deren Elend zum islamistischen Feldzug gegen das Abendland umfunktioniert wird." Dabei müssten die Brüller und Hetzer nur in die Geschichtsbücher schauen. Dann würden sie nämlich erfahren, "wie das christliche Abendland seit Jahrtausenden und bis heute über den Globus trampelt, als wäre der seiner", sagt Sabine Seidler.

Mit den Schwestern ihrer Klinik in Tunis ist sie per E-Mail weiterhin in Kontakt. Und sie setzt sich oft an den PC, wählt sich über Skype ein, bis die fröhlichen Frauen ihrer neuen Familie in Hammamet auf dem Monitor erscheinen und fragen: "Hallo, wie gehts?"

Coiling

Aneurysmen der Hirngefäße können, wenn sie einreißen zu einer lebensbedrohlichen Hirnblutung führen. Um dies zu verhindern muß das Aneurysma aus dem Blutkreislauf ausgeschaltet werden, damit der Blutdruck nicht mehr auf die dünne Aneurysmawand wirkt.

Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich das Aneurysma-Coiling in zunehmendem Maße als Alternative zum offenen chirurgischen Vorgehen etabliert. Mit stetig wachsender Erfahrung mit dieser Methode werden heute mehr als die Hälfte aller Aneurysmen neuroradiologisch durch Coiling behandelt.

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