Thüringer helfen "Bleibt nur das Prinzip Hoffnung"

Von Klaus-Ulrich Hubert

Das Sprichwort, wonach ein Unglück selten allen kommt, wirkt geradezu albern, wenn man die Folgen von Schicksalsschlägen der Familie Oswald allein in diesem Jahr kennt.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Eisiger Ostwind des ersten Dezembertages sticht Silvia Oswald in das Gesicht, als sie "nun doch erst mal raus, an die frische Luft muss". Im Foyer des Ökumenischen Hainichklinikums weit außerhalb Mühlhausens kann sie nur sehr leise sprechen. Immer wieder kommen andere Patienten vorbei geschlurft, eilen Schwestern zum Dienst, jedes Mal unterbricht sie ihr Sprechen.

Die hier freiwillig und zum eigenen Schutz eingelieferte Mutter zweier erwachsener Kinder ist kaum zum Erzählen gekommen, als Tränen aus den Augen perlen, den Hals hinunter laufen, im Pullover-Kragen versiegen. Diese junge Frau aus Möhra - so wie aus anderen Kliniken gewohnt - einfach über die Rezeption zu erreichen und zu besuchen, ist hier schwierig. "Sie müssen das verstehen. Es ist nur zum Patientenschutz!", so bedauert die herbeigeholte Klinik-Datenschutzbeauftragte im Chefarztbüro.

Von hier, aus dem Fachkrankenhaus für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie kann Silvia diese Woche endlich wieder nach Hause zurück. Einen Monat lang war sie zur seelischen Stabilisierung, zu vielerlei Therapien in der Psychiatrie - um hier eine Auszeit von ihrem aus vielen Quellen gespeisten Leidensdruck zu bekommen: Modernes Doppelzimmer, freundliches Personal "das einen laufend auf Trab hält", eine Patientin im Bett neben ihr. Und auf dem Nachttisch das große Foto eines sanften Jungengesichts: Ihr Steven. Ihr Großer. 17 Jahre jung, der "kleene Bruder" seiner 22-jährigen Schwester Josephine und Onkel von deren dreijährigen Söhnchen Nils.

Familienvater erkrankt

So war es bis zum 19. Juni 2014 gegen 16 Uhr. Silvias große Hoffnung, ihr Kind, wurde Opfer eines Unfalls. Steven war der Mann im Hause, seit seinen Vater Mario als früheren Hauptverdiener in diesem Jahr die vernichtende Wucht einer unheilbaren, lebensverkürzenden Krankheit ereilte: Chorea Huntington, ein ehemals Veitstanz genanntes Nervenleiden. Das ließ vom einst kräftig zupackenden, mit seiner Firma bundesweit auf Baustellen gefragten Tiefbauer Mario Oswald nur noch ein "menschliches Wrack" übrig. Die Krankheit bemächtigt sich immer rascher der Nervenzellen im Gehirn: "Sie hätten ihn mal früher erleben sollen", klingt es mit Stolz aus Silvias Mund."

Ihr Steven saß an diesem Donnerstagnachmittag im Juni auf der Pkw-Rückbank, kam mit Freunden vom Einkauf: Frontalzusammenstoß. Bei Berlstedt war das, auf der L 1055 im Weimarer Land. Für Retter und Polizisten boten die zerschmetterten Autos ein Bild des Grauens: Steven und ein Freund starben noch am Unfallort ...

Silvia, wieder in ihrem warmen Krankenzimmer mit Blick auf das Nebelgrau vor dem Fenster der Anstalt, streicht liebevoll über das gerahmte Foto von Steven. Mit ihren Pullover-Ärmeln versucht sie immer wieder die Tränen zu stoppen, das finstere innere Unfallbild weg zu wischen. Und die Erinnerung daran, als am Abend jenes 19. Juni, knapp fünf Stunden später, Polizei und zwei Notfallseelsorger in der Lutherstraße vor der Tür standen. Was schon zuvor in der Familie durch Altersangaben der Unfallopfer in Rundfunkmeldungen höllische Angst und Befürchtungen genährt hatte, war in diesen Minuten Gewissheit und tiefer Abgrund geworden.

Neues Elend obendrauf

Eine Lange Lufthol-Pause Silvias beim Erinnern. Die Frage nach den besten Zeiten ihrer Familie lässt dann aber sogar ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht huschen: "Eigentlich fast immer, seit Mario und ich 1992 heirateten und wir unsere Kinder groß werden sahen. Oma Bärbel und andere Familienmitglieder immer in der Nähe. Und Mario mit schwer aber gut verdientem Geld, ich noch bis 2011 in selbstständiger Tätigkeit mit Seniorenbetreuung und Haushaltshilfe. Bis meine Hauptkunden durch Tod wegbrachen."

Ein wenig bange ist's Silvia dennoch. Trotz der festen Zusage zur Unterstützung durch die Weihnachtsaktion des Hilfsvereins unserer Zeitung "Freies Wort hilft / Miteinander-Füreinander". In der "kleinen heilen Welt der Psychiatrie" hatte sie während des vergangenen Monats auch Heimweh. Doch wenn sie jetzt wieder daheim ist, sind ihre Sorgen nicht kleiner geworden. "Oh doch, wir haben sehr schöne Zeiten zusammen gehabt. Aber dann ist es knüppeldicke gekommen; immer noch neues Elend oben drauf!", sagt Silvia. Und es klingt aus dem Munde der erst 39-Jährigen, als gäbe es kein Entrinnen aus dem Abwärtsstrudel ihrer Familie.

"Das darf es aber nicht!", sagt daheim in der kleinen, nur halbwarmen Parterre-Wohnung Silvias Mutter Bärbel Iffland. Es ist ein gütiges aber sehr verhaltenes Lächeln, um das sich die Ur-Oma des kleinen Nils dabei tapfer bemüht. Als "Krisenmanagerin" will sie sich dabei nicht verstehen, während sie auf den guten Zusammenhalt der Familie in den drei dicht-bei-dicht lebenden Haushalten des schmalen Hofes in der Lutherstraße 1 verweist.

Zur Familie gehört auch Bärbels zweite Tochter Kathrin und deren Mann Michael: "Unter der Woche unterwegs auf Montage: Komplette Pflegeeinrichtungen und -betten installieren", sagt der 33-Jährige. Ehefrau Kathrin bekommt im Februar ihr zweites Baby. Den angrenzenden Seitenflügel der Lutherstraße 1 haben sie vor einem halben Jahr bezogen, vieles saniert, neue Möbel eingepasst. Gerade entdeckten sie, dass dabei ein Stelle in der Wand übersehen wurde - die die Schränke und Kommode mit Schimmel infizierte. "Muss jetzt wegen der Kinder alles hier raus!", sagt Michael.

Er bringt Brennholz für den kleinen Kaminofen rein. Um den herum spielt sich jetzt im Winter das Leben der Oswalds ab, während die Nebenräume mit Elektro-Radiatoren beheizt werden müssen. "Bis meine anfängliche, krankheitsbedingte Zitterei ... auf Arbeit schon ... zu Witzeleien Anlass gegeben hatte und ich ... seit rund zwei Jahren von Erwerbs...unfähigkeitsrente lebe ... Früher hab ich immer schöne Heizholzvorräte gemacht." Sagt der schwerkranke Vater Mario, braucht für den Satz viel Zeit.

2014 machte ihn die Krankheit schon derart zum Invaliden, dass seine Tochter Josephine erklärt, wie und "warum man Papa nicht mehr allein lassen kann. Nicht auf die Treppe nach oben ins Schlafzimmer, nicht aufs Klo und schon gar nicht auf die Straße. Seine Nervenzellen... Papa leidet nicht nur unter der Zerstörung des Gehirnbereiches, der für Muskelsteuerung, für alle möglichen mentalen Funktionen wichtig ist. Der kriegt heute auch nicht mal mehr eine Reißzwecke in die Wand."

Mario bekommt schon wieder kaum Luft, er zuckt, spricht seltsam abgehackt: "Meine Jähzorns-Ausbrüche kann ich auch nicht steuern." Es sei so, als kämen die von einem anderen. "Mir tut's danach immer so leid", sagt er entschuldigend und traurig zu dem Teil seines Krankheitsbildes. Und: "Diese Scheiß-Zitterei! Immer hatte ich selber Brennholz gemacht, Heizkosten gespart, bis wir wieder Geld für eine Gas- oder Ölheizung übrig hätten."

Nichts blieb mehr übrig

Denn wegen der gröbsten Sanierungen am Haus müssten monatlich 800 Euro "für einen harten Elf-Prozent-Zinsen-Kredit abgedrückt werden", fügt Marios Schwiegermutter Bärbel hinzu. Als der Schwiegersohn mit Sanieren loslegen wollte, war das geerbte Häuschen nämlich noch nicht im Grundbuch eingetragen. Deshalb gab es keinen der günstigen Baukredite, erläutert Bärbel mit dem Hinweis: "So wuchsen in den anderen Räumen jenseits des Öfchens die Strom-Heizkosten. Und als Mario überhaupt nicht mehr arbeiten konnte, gingen von seinen 950 Euro Rente die Kredittilgung plus Haushaltskosten samt Stromrechnungen ab. Da bleibt nichts!"

Trotz aller gegenseitiger Unterstützung der Tür an Tür lebenden Familienmitglieder: Die drei Katastrophen trafen besonders verheerend aufeinander - die tödliche, nicht heilbare Gehirnzellenzerstörung des Familienvaters, der finanzielle Zusammenbruch des Familienbudgets und dann auch noch Stevens Unfalltod. "Unser Steven war spätestens seit Papas vollem Krankheitsausbruch Mamas und unser aller Hoffnungsträger für die Zukunft der Familie", sagt Josephine über ihren Bruder.

Über Mutter Silvia war die Welt schon zusammengebrochen, als klar wurde, dass ihr Mann bei durchschnittlich 15 Jahren Überlebenschancen - nach Auftauchen erster Symptome - immer pflegebedürftiger werden würde. Vor rund sieben Jahren schon waren die ersten Anzeichen bei ihm bemerkt worden ... Bald kann Mario nun nur noch im engen Parterre-Zimmerchen schlafen und leben. Ein Treppenlift passt weder in das winzige Haus, noch wäre der finanzierbar. Wenigstens konnte man inzwischen die Pflegestufe 1 erkämpfen.

Als die Familie im Frühsommer vom Friedhof kam, ihren Steven mit nur 17 Jahren bestattet hatte, da brach dann endgültig alles zusammen. Mutter Silvia nun wenigstens seit Donnerstag - mit dem Foto ihres Sohnes in der Reisetasche - aus der Nervenklinik zurück. Zu Hause, im sorgenvollen Alltag.

In dem wird "Freies Wort hilft / Miteinander-Füreinander" zumindest schon mal das Brennholzproblem lösen. Übergangsweise. Denn Ziel der großen vorweihnachtlichen Hilfeaktion 2014 dieser Zeitung und ihres Hilfswerkes ist der Einbau einer Öl- oder Gasheizung in den engen vier Wänden der Oswalds.

Aber: Auch wenn die sich in diesem Winter an der neuen Heizung wärmen können, kriechen dennoch Kälte und Ängste tief in sie hinein: "Meine große Hoffnung, ich könnte dieses Wahnsinns-Huntington vielleicht nicht von Papa geerbt haben, zerschlug sich inzwischen." Josephine schaut jetzt auf ihr Söhnchen Nils runter: "Die genetische Erbfolge ist kompliziert ..." - Pause. Nachdenken: "Es bleibt uns nur das Prinzip Hoffnung: Der Vater meines Papa Mario hatte auch Huntington. Und Glück im Unglück: Bei ihm war das mörderische Gen nur als ,Schläfer' im Körper."

Chorea Huntington

Chorea Huntington (Veitstanz) ist eine nach wie vor unheilbare erbliche Erkrankung des Gehirns. Sie bricht meist um das 40. Lebensjahr herum aus. Die Gehirnzellen werden durch ein Eiweiß zerstört, das infolge eines Defekts des sogenannten Huntington-Gens gebildet wird. Krankheitserscheinungen umfassen Störungen des Gefühlslebens, der Muskelsteuerung einschließlich der Mimik und dann der Hirnfunktion insgesamt: Endstadium Demenz und Tod.

Bilder