Suhl – Zeitgenössische Lyrik im inspirierenden Ambiente des Stadtbücherei-Glaskubus – gibt es eine ansprechendere Synthese? Vor drei Jahren wurde die Veranstaltungsreihe „Wortklang“ von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen zusammen mit dem Verband deutscher Schriftsteller in Thüringen, Lese-Zeichen e.V., ins Leben gerufen, die jedes Jahr an acht ausgewählten Veranstaltungsorten im Freistaat stattfindet. Die Leiterin der Stadtbücherei, Irmhild Roscher, freute sich sehr darüber, dass das außergewöhnliche literarische und lyrische Erlebnis bereits zum zweiten Mal in Suhl die Gelegenheit bot, Schwellenängste vor Lyrik abzubauen und bedauerte, dass keine Schulklassen das Angebot nutzten. Dessen ungeachtet waren eine große Anzahl interessierter Liebhaber des poetischen Fachs anwesend. Ein dichterisches Dreigestirn bot nacheinander Kostproben aus seinem Schaffen. Dass sich weihevolle Lyrik, die nach Ernst und Gedichtinterpretationen riecht, und Spaß nicht beißen müssen, wurde bald klar.

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Wortbilder voller Kraft

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Doch zuerst las Nancy Hünger, die 1981 in Weimar geboren wurde, und den Titel „Diplom-Künstlerin“ der Bauhaus-Universität führt, aus ihrer Veröffentlichung „Aus blassen Fasern Wirklichkeit“. Sie ist über die Grenzen Thüringens bekannt und erhielt 2008 neben einem Stipendium des Thüringer Kultusministeriums auch das Hermann-Lenz-Stipendium, die wichtigste Auszeichnung für deutsche Nachwuchslyriker. Ihre Zuhörer nahm sie mit auf einen stillen und tiefgründigen Streifzug durch die Ukraine in Gedichten und Kurz-Prosa. „Mein hinkender Tisch“, „der Himmel verteilt Leichtigkeit“, „von manchen Häusern stürzt der Barock in kleinen Kieseln zu Boden“ – mit Wortbildern voller Kraft sowie einem Kaleidoskop hieroglyphischer Chiffren evoziert sie im Rezipienten ein behutsames Nachdenken über die Zustände unserer Welt. Seit ihrer Pubertät ist sie dabei, ihre Empfindungen auf diese Weise zu präzisieren und zu verarbeiten. Der anwesende Geschäftsführer von Lesezeichen e.V., Martin Straub, hat das zurückhaltende Ausnahmetalent schon lange im Blick.

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Einfühlsam nach neuen Motiven

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Hünger steht in der Nachfolge der Lyrik des Expressionismus und des Hermetismus. Anklänge an Georg Trakl, Paul Celan und Sarah Kirsch sind auszumachen.

Die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Sprache ist zerbrechlich geworden, bewährte Metaphern greifen nicht mehr. Sehr einfühlsam spürt die junge Autorin neuen Motiven nach, um den Spalt zwischen Erlebtem und abgedroschenen Worthülsen zu schließen.

Deftiger ging es bei Steffen Mensching zur Sache, der, 1958 in Berlin geboren, nach seinem Studium der Kulturwissenschaften als Schauspieler, Kabarettist und Regisseur erfolgreich tätig war. Seit 2008 als Intendant am Theater Rudolstadt, las er aus seinem Lyrik-Sammelband „Das gewisse Etwas“. Das entpuppte sich im Laufe der Lesung als sterbender Bettler mit Schäferhund („Etwas, das als Kind etwas werden wollte, etwas, unter dem Existenzminimum, …etwas, auf das im Tierheim etwas wartet“).

Politisch motiviert präsentierte der leidenschaftliche Schwarzangler Mensching viele Gedichte mit einer gewissen Redundanz, die die Klischees des Alltags gegen bürsteten. Die regten zum Schmunzeln an, verhalfen zum klareren Sehen und erinnerten, manchmal brutal gereimt, an Rap.

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Wichtige Details gingen verloren

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Seine Lesung von Versen „aus der Zeit vor und nach der Wende, passend zum Jubiläumsjahr“ führte im Schweinsgalopp durch seine Lyriksammlung. Das Tempo der dargebotenen Kostproben war – bei allen drei Autoren – atemberaubend. Schade, denn so fielen wichtige Details unter den Tisch. Der Abend schloss mit der 1980 in Berlin geborenen Dichterin und Sängerin Lydia Daher. Burschikos im Auftritt, an dem noch das renitente Brodeln eines Teenagers hing, gestählt durch die Kölner Poetry-Slam-Szene und 2005 in Leipzig zur besten weiblichen Bühnendichterin Deutschlands gekürt, griff sie zum Abschluss zu ihrer Gitarre, um sich in gezupften Akkorden selbst zu bekleiden. Zuvor präsentierte sie Liebes- und Alltagslyrik aus ihrem Leben in Augsburg in einer reimlosen Sprache voll Alliterationen, die zwischen Großstadtslang und Ingeborg Bachmann („Anrufung des Großen Bären“) changierte. „Kein Tamtam für diesen Tag“ ist der Titel ihres Lyrikbandes. Auch für sie ist die heile Welt verloren, düster und erdig schwer beschreibt sie in einer Dichtkunst ohne Erbarmen („zwischen uns der eiserne Vorwand“) ihre Impressionen vom Dasein. Zum Schluss singt sie ein modernes Schlaflied („zähle die Dreckspritzer am Heck des großen Wagens“), nach dem niemanden zum Schlafen war.