Suhl - Es kann bei einer Buchpremiere schon vorkommen, dass der Autor just gerade zu diesem Ereignis sein Werk überhaupt erstmals sieht, in die Hand nimmt - oder daran riecht, weil es noch druckfrisch ist.
Fritz Waniek, der Landolf Scherzer in alter Verbundenheit und in beinahe vierzigjähriger Tradition an diesem Platz in Suhl begrüßt, ist froh, dass die Ladung doch noch rechtzeitig hierher gelangte. Schließlich wollen die vielen Besucher an diesem Abend nicht nur zuhören, sondern auch das Buch unterm Arm, möglichst noch mit Widmung des Autors, nach Hause tragen.
Seit 1973 hat fast jede schriftstellerische Publikation Landolf Scherzers von hier aus - und gebührend honoriert vom Publikum - ihren Weg in die Regale der Buchläden gefunden. Nun, da der Reportagenschreiber beinahe siebzig ist, und als solcher um die Wurzeln des Lebens anders weiß, als vor vierzig Jahren als junger Spund, weiß er sich wohl umso mehr verpflichtet gegenüber jenen Lesern seiner Heimatstadt, die an seinem Schaffen vierzig Jahre hautnah Anteil nahmen. Es wird in Suhl, neben einer weiteren Buchpremiere in Bad Salzungen, diesmal die einzige bleiben. Zumindest vorerst.
Und es fügt sich mit diesem neuen Band, den der Aufbau Verlag aus Geburtstagsanlass als ein gewisses "Best of" von Scherzer versteht, noch ein anderer glücklicher Umstand in Suhl. Denn einen Teil der Texte in "Urlaub für rote Engel" verbindet der Schriftsteller gemeinsam mit den Erinnerungen seiner Zuhörer. Er hätte deshalb seine Lesung auch mit den Worten "weißt du noch?" beginnen können, denn die Zeit, die Reise zurück in die Neunziger, als das Kalibergwerk in Merkers dicht machte, als die Kumpel von Bischofferode hunger-streikten, als Kohl zum Wahlkampf nach Suhl kam und Vogel damals von der geretteten Jagdwaffe und dem geretteten Simson schwatzte, als Scherzer selbst 1997 mit der Thüringen-Philharmonie im Hungerstreik war, die rückt mit einem Mal wieder nahe heran - mit lebendigen Bildern.
Die historische Distanz
Doch mit der historischen Distanz schaut man noch einmal anders zurück. Da geht es Scherzer wie den Zuhörern. Mit dem einen Unterschied: Er hat die Ereignisse aufgeschrieben und bewegt damit das Gedächtnis seiner Zuhörer. In einer schnellebigen Zeit, wo vieles nur stichpunktartig durch die Medien rausche, sei die Erinnerung an das, was geschehen, "wie wir es erlebten", besonders wichtig. Und er erinnert sich daran, wie er am zehnten Tag seines Hungerstreiks mit den Philharmonikern im Kulturhaus und den Zuhörern seine Buch-Premiere teilte. Aus jenem Band von damals "Mitleid ist umsonst, Neid musst du dir erarbeiten" stammen übrigens einige der Texte aus dem neuen Sammelband. Damals sei er ziemlich wacklig auf den Beinen gewesen, aber "es ging gut, weil man das Miteinander der Menschen spürte."
Wie es heute um das Miteinander, die Erinnerungen, den Aufbruch und die Realität bestellt ist, das hätte man an diesem Abend gut bei Scherzers Reportagen bereden können. Und das wären sicher auch etliche Zuhörer gern losgeworden. Aber es ergab sich nicht. Denn Scherzer, er las neunzig Minuten, und danach war das Gesprächsbedürfnis vieler im Auditorium erschöpft.
Gewiss, es ließ sich gut lauschen, auch den neueren Reportagen, beispielsweise über die Millionäre in Radebeul, oder der nachdenklichen, essayistischen Korrespondenz mit seinem Freund Günter Wallraff. Doch ganz ohne Zwiegespräch mit dem Publikum, das war eigentlich nie Scherzers Ding. Schade. Da bleibt die Erinnerung an den Abend eben auch nur "stichpunktartig", um mit Scherzer zu reden.
Urlaub für rote Engel, Aufbau, TB