Schmalkalden - Groß angekündigt war die Buchlesung im Rahmen der 1. Schmalkalder Bildungsmesse. Das Buch "...nicht um jeden Tag weinen" von Anita Rund stand im Mittelpunkt der Lesung, die während der Bildungsmesse am Samstagvormittag anberaumt worden war. Die Autorin ist Initiatorin des "Glashaus", einem Thüringer Verein für ein drogenfreies Leben, und Leiterin des "Gothaer Elternkreises drogengefährdeter und drogenabhängiger Kinder".

Nur gut, dass der gute Organisationsgeist der Bildungsmesse, Silvia Erdenberger, sich um die Zeit im Foyer aufhielt. So konnte sie die Besucher in den Seminarraum schicken, wo die Lesung sein sollte. Ein Hinweisschild fehlte. Beim Betreten des Raumes überkam einen Scham: Tische und Stühle zusammengerückt. Die Autorin stellte sich Tisch und Stuhl selbst zurecht, die Gäste räumten die Stühle zum Rund. Die Mäntel ließen sie an, denn die Heizung war zugedreht.

Hätten die Veranstalter die Idee gehabt, mit dieser Lesung Jugendliche anzusprechen, wäre der Zeitpunkt ungünstig gewählt gewesen. Denn samstags fängt der Tag für die meisten jungen Leute nicht vor Mittag an. Für betroffene Eltern indes war es eine gute Zeit. Und dass diese nicht in Scharen ein solches Angebot annehmen, ist verständlich. Anita Rund schildert in ihrem Buch sehr genau, wie lange die Sucht der Tochter von der Familie verdrängt worden war. Das ganz Besondere dieser Lesung war jedoch, dass eben diese Tochter mit ihrem Baby anwesend war und die Worte der Mutter mit eigenen Reflexionen unterstrich.

Das Buch beginnt im Jahr 1999 mit dem Leidensweg der Tochter. Mit zwölf Jahren konsumiert sie Cannabis. Ein Jahr später ist sie bereits auf Heroin. 2006 steht sie eine Therapie durch und bis heute ist sie in einem Ersatzprogramm.

"Ich habe alles aufgeschrieben, weil ich mit niemandem reden konnte", berichtete die Autorin über das Entstehen des Tagebuchs. Als sie das Buch gemeinsam mit dem Lektor noch einmal durchging, "habe ich ein halbes Jahr geweint". Alles, was sie glaubte, weggesteckt zu haben, kam wieder hoch. Schonungslos schildert die Frau, wie die gut situierte Familie mit zwei Geschäften allmählich in den Ruin abglitt, wie ihr Leben aus den Fugen geriet. Es begann damit, dass die Familie sich ein neues Haus kaufte und die Tochter in eine neue Schule musste. Die Tochter habe sich "komplikationslos Freunde gesucht, und es waren die falschen", so die Mutter.

Einen Teil der Schuld für die Drogensucht ihres Kindes gibt sie der Gesellschaft. Nach der Wende habe im Osten jede Beobachtungsfähigkeit und Phantasie gefehlt, dass es hier auch Drogen geben würde. Aber zu der Zeit hätten "die schwarzen Mercedes schon vor den Schulhöfen" gestanden. Ein Markt von 16 Millionen nicht drogenabhängigen Menschen hatte die Dealer magisch angezogen.

Als Tag der Wahrheit bezeichnet die Mutter den Moment, als ihr die Tochter die von Heroinspritzen zerstochenen Arme zeigte. Entsetzt sei sie zu Polizei und Notarzt gelaufen - doch Hilfe, so ihr Vorwurf, habe sie nicht bekommen. Es dauerte ein Jahr, bis die Tochter einen Platz in der Entgiftung bekam. Allerdings wussten sie nicht, dass das Mädchen zum kalten Entzug in eine geschlossene Anstalt eingewiesen werden sollte. "Als ich das mitgekriegt habe, bin ich durchgedreht und abgehauen", sagt die Tochter.

Auf dem Asia-Markt in Erfurt sei der Umschlagplatz für die Drogen gewesen, sagt die Mutter, die es mit eigenen Augen gesehen habe. Das Geld für ihre Sucht stahl die Tochter den Eltern und als das nicht mehr reichte, beging sie Diebstähle und Einbrüche. Die ersten drei Gerichtsverfahren seien eingestellt worden. Hilflos habe sie eine Richterin empfunden, die wohl Mitleid mit der auf 50 Kilo abgemagerten Tochter hatte.

Die Mutter gab sich die Schuld für die Sucht und setzte alles daran, einen Therapieplatz zu bekommen. "Ohne Vitamin B, sprich Beziehungen, wäre das nicht möglich gewesen", schildert die Autorin. Weitere Hürden waren die Kostenübernahme durch die Krankenkasse und die Suche nach einer geeigneten Klinik. Dann der verzweifelte Schritt, die Tochter in die geschlossene Abteilung in Mühlhausen zwangseinweisen zu lassen. Prompt riss sie aus.

"Ich habe immer gedacht, dass ich mit elf, zwölf Jahren die Konsequenzen meines Tuns abschätzen konnte", sagt die Tochter heute. Eine Therapie in einer anthroposophischen Einrichtung brach sie kurz vor dem Ende ab. Mit einem Mal wurde alles genommen, Kontakte zu den Eltern, Fernsehen, Radio, Kaffee und Süßigkeiten waren tabu.

Im Gegenzug gab es einen Opernbesuch in Wiesbaden und einen Urlaub im Schwarzwald, berichtete die Tochter. Doch habe ihre Kraft für diese Therapie nicht gereicht. Sie verließ die Einrichtung und ging für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis. Denn so groß war ihr Strafregister mittlerweile. Eine Therapie in der Grunewaldvilla in Berlin brachte schließlich den Erfolg. Weil die Patienten dort für alles selbst verantwortlich sind, habe sie es durchstehen können. Die kleine Runde von Frauen diskutierte lebhaft und zum Teil kontrovers über den Umgang mit der Sucht.