Schmalkalden – „Nur einen Katzensprung vom Bahndamm entfernt, befand sich ein stattlicher Backsteinbau, den ich gleich neugierig aus der Nähe betrachtete: So sah sie also aus, die Ingenieurschule, die für drei Jahre meine Heimstatt des Lernens werden sollte.“

Diese Szene spielte sich im August 1953 ab. Sie ist nachzulesen in dem Buch „Mein Leben im Thüringer Dreieck“ von Ulrich Wenger. Der Autor, 1935 in Großfurra bei Sondershausen geboren, schildert darin seine Erinnerungen. Sein „Thüringer Dreieck“ wird von den Orten Sondershausen, Schmalkalden und Jena markiert. Und Schmalkalden, versichert Ulrich Wenger, sei von den dreien seine Lieblingsstadt. Warum, wird sich am Ende des Buches zeigen.

Der Student Wenger wurde zuerst in Seligenthal bei Familie Schmeißer untergebracht. Anfänglich überlegte er, einen Dolmetscher hinzuzuziehen, denn der Dialekt, den seine Vermieterin mit ihrem Sohn sprach, war für den obwohl auch aus Thüringen Stammenden, ein Buch mit sieben Siegeln. Mit dem Sohn der Vermieterin und einem dritten Mann, „der sich immer schnell fand“, klopfte der 18-Jährige so manchen Skat. Den Männern bereitete es im Übrigen „ein diebisches Vergnügen, einem mittelmäßigen Spieler wie mir ein paar Pfennige abzuluchsen“.

Der Leser erhält durch diese persönliche Sicht einen Einblick in das Leben in Schmalkalden in den 50er Jahren, besonders in das der I-Schüler, das „äußerst kurzweilig“ gewesen sein muss. Es wurde gesungen, gewandert, ins Kino nach Floh gegangen. Gleich am ersten Tag besucht Wenger die Gaststätte Malsch am Stiller Tor, wo er eine Schmalkalder Spezialität, die Limonade Laura, kennenlernt.

Aber auch gelernt werden musste viel, erinnert sich der mittlerweile 73-Jährige noch gut – und das unter den erschwerten Bedingungen der Nachkriegszeit. Von zu Hause hatte Ulrich Wenger nicht viel zu erwarten. Sein Vater war im Krieg gefallen, seine Mutter krank.

Anfang 1954 zieht Ulrich Wenger nach Schmalkalden um und hat mit seiner neuen Studentenbude Am Blechhammer 19 „doppelt Glück“. Nur fünf Minuten zu Fuß zur Schule – und in dieser Wohnung sollte er seine Frau kennenlernen.

In den Semesterferien im August 1954 macht sich Ulrich mit seinem Cousin Eggi mit dem Fahrrad auf nach Ludwigshafen, wo dessen Bruder Siegfried wohnt. „Was wir damals nicht wussten: Es sollte aufgrund der politischen Entwicklungen für lange Zeit ein einmaliges Erlebnis werden.“ Die beiden Jungspunde sehen „den Vater Rhein“, aber was für die Fußballfans ein noch größeres Erlebnis ist, sie sind beim Fußballspiel Phönix Ludwigshafen gegen den 1. FC Kaiserslautern dabei. Dort spielen die „Helden von Bern“, allen voran Fritz Walter, die erst kurz zuvor Weltmeister geworden waren.

Küssen konnte sie ganz gut

Das dritte Semester beginnt mit einem Mundraub in der Notstraße, der aber für Ulrich Wenger, der sich schon hinter schwedischen Gardinen sah, glimpflich endet. Dann kommt Freitag, der 10. Dezember 1954. Er soll ein ganz Besonderer werden: Ulrichs Vermieterin feiert Geburtstag. Mit dabei die Tochter einer Kollegin seiner Vermieterin: Evelies Briesenick. Die jungen Leute kommen schnell zur Sache, was Ulrich Wenger heute so schildert: „Oh, küssen konnte sie ganz gut, wie ich erfahren durfte.“ Gleich am Montag darauf lädt er seine Angebetete, die wie ihre Mutter bei der Post arbeitet, ins Kino ein. „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ mit Romy Schneider läuft – und „wir waren total hingerissen“.

Eva-Elisabeth, die am 10. Juli 1936 geboren wurde, wohnt am Weidebrunner Tor 8, wo zum Fasching darauf eine größere Fete starten sollte. Kurz danach wird Evelies seine „offizielle“ Freundin. Den 20. Geburtstag am 30. April 1955 feiern sie bereits zusammen. Sie schenkt ihm einen roten Schlips und eine Schachtel Zigaretten der Marke „Turf“.

Ulrich Wenger gibt in seinem Buch noch einige Anekdoten aus seiner Zeit als I-Schüler in Schmalkalden zum Besten, wie den obligatorisch auf der Ebertswiese gefeierten Himmelfahrtstag oder seine Wanderungen „Zur Queste“, wo er im Jahre 2003 mit Evelies den 70. Geburtstag ihres Cousins Gerhard feierte. Er berichtet davon, dass seine erste eigene Konstruktion tasächlich verwirklicht wurde, wie er beim ersten Absolvententreffen nach dem Studium sehen konnte. Er schildert den ersten gemeinsamen Urlaub mit Evelies in Wünsdorf bei Berlin, wo sie sich am Potsdamer Platz ein Paar schöne braune Schuhe kaufte. 2007 besuchte das Paar den Potsdamer Platz wieder und erinnerte sich 52 Jahre zurück. „Einfach unglaublich, was in der Zwischenzeit passiert ist.“

1956 waren beide zu Besuch in Unterbreizbach bei Ulrichs Cousin Manfred Gerber, der Kaufmännischer Leiter im Kaliwerk war. Damals gingen sie noch direkt an der Grenze spazieren, ein paar Jahre später eine Unmöglichkeit, „wollte man nicht sein Leben riskieren“.

Am 11. August 1956 verloben sich die Schmalkalderin und der Absolvent der Ingenieurschule, der nur acht Tage später nach Karl-Marx-Stadt geht, um seine erste Stelle anzutreten. Evelies folgt ihrem Freund dorthin. Doch das Jawort gibt sie ihm am 9. August in der Stadtkirche Schmalkalden.

Ulrich Wengers Lebensweg führt ihn 1959 zu Carl Zeiss nach Jena, wo er als Konstrukteur beginnt und drei Jahrzehnte bleiben wird. Er beschreibt, wie seine Mutter, nur 46-jährig, stirbt, daran zerbrochen, dass sein Bruder wegen Devisenschmuggels ins Gefängnis gekommen und auch er, Ulrich, verurteilt worden war.

Der erste Sohn Thomas wird im Mai 1960 in Schmalkalden geboren. Die Fahrten (Karl-Marx-Stadt-Jena-Schmalkalden) legt Ulrich Wenger mit seinem „Berlin“-Roller zurück. 1963 erhält Evelies den schockierenden Befund, an Tbc erkrankt zu sein. Neun Monate verbringt sie in der auf diese Krankheit spezialisierten Heilanstalt in ihrer Heimatstadt Schmalkalden. 1966 bekommen die Wengers zweifachen Nachwuchs: den langersehnten Trabi und Sohn Ulrich, der „nach Wunsch ein Mädchen werden sollte“. Während dieser ganzen Zeit hatte Ulrich Wenger noch ein Fernstudium laufen, das er nach fast zehn Jahren, im Jahr der Einschulung seines ersten Sohnes, als Diplom-Ingenieur beendet.

Im August 1968 bei einer Wanderung sieht Wenger Militärflugzeuge am Himmel, später wird ihm klar: Das waren die Vorbereitungen des Einmarschs des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei. Immer wieder flicht Wenger politische Ereignisse mit seinem Lebenslauf zusammen, wie den Besuch Willy Brandts in Erfurt 1970.

Michaela ist ein Michael

Wenger steigt bei Carl Zeiss, ohne dem mehrmaligen Werben in die Partei einzutreten, nachzugeben, zum Abteilungsleiter auf. Er darf in den 70er Jahren auf Dienstreise nach Moskau und Kiew, sogar nach London.

Mit Witz und Augenzwinkern schildert Ulrich Wenger Alltagserlebnisse, die wohl jeder ehemalige DDR-Bürger unterschreiben kann. Wie den Ferienplatz an der Ostsee: „Misthaufen, Trockenklo über den Hof und etwas Viehzeug.“ Die Schlange an der Konsumgaststätte nicht zu vergessen, aber Hauptsache Strand, Sand, Wasser und Burgen.

1972 sollte endlich das kleine Mädchen unterwegs sein, das den Wengers „zum vollständigen Kinderglück“ noch fehlte. „Wir würden sie Michaela nennen“, stand bereits fest. Am 24. Mai, exakt zwölf Jahre nach seinem Bruder Thomas, kommt Michael zur Welt – „Zeiss-Präzision“, kommentiert der Vater.

Nach der friedlichen und turbulenten Zeit der Revolution 1989 bekommt Ulrich Wenger Depressionen, doch am 1. April 1991 gründet er seine eigene Firma, 2002 übernimmt Sohn Thomas die Wenger-Wiethüchter Vermessungstechnik.

Diagnose Krebs

Im Dezember 2005 wird bei Ulrich Wenger Prostatakrebs festgestellt. Ein Arzt drückt ihm drei Hefte mit Therapiemethoden in die Hand und meint, wenn er sich für eine entschieden habe, könne er ihm die anderen beiden Hefte ja zurückgeben. „Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin.“ Es war die Zeit, als er begonnen hatte, sein Buch zu schreiben. Nach der Diagnose will er davon nichts mehr wissen. Seine Familie und das Ziel, mit seiner Eva am 9. August 2008 die goldene Hochzeit zu feiern, lassen ihn wieder Mut und Hoffnung schöpfen. „Ich musste es einfach schaffen. Ich musste!“ Ulrich Wenger schaffte es zwei Jahre, dann kam der Krebs wieder: Metastasen an der 8. Rippe links.

„Wie sehr habe ich mir gewünscht, an dieser Stelle eine zufriedene, positive Bilanz meines Lebens zu ziehen“, schreibt der drahtige Mann, der Heinz Rühmann ähnelt, auf der letzten Seite. Doch der Krebs ist nicht besiegt. Und auch die Familienfeier anlässlich des 50. Hochzeitstages wird es nicht geben. Die Söhne Thomas und Michael haben sich erst geschäftlich, dann persönlich zerstritten. „Ein Riss geht nun durch die Firma, ein Riss auch durch die Familie.“ Eine Versöhnung der beiden ist neben der Heilung der Krebskrankheit der größte Wunsch. Doch Ulrich Wenger zieht trotz allem eine zufriedene Bilanz und stellt fest: „Die besten Jahre ... hatten wir in Schmalkalden.“ Über seine 50 Ehejahre mit Eva schreibt er: „Über allem stand bei uns der feste Wille, mit den Fehlern des anderen zu leben. Wir sind einen weiten Weg gegangen. Wir sind weit gekommen.“

In einer einfachen, leicht verständlichen, unterhaltsamen Art zeichnet der Autor, chronologisch aufgebaut, ein Stück ostdeutsche Geschichte nach, eingebettet in die Familiengeschichte und Familiengeschichten der Wengers. Einer Familie, wie es tausende gibt, die aber auf ihre Weise doch wieder einzigartig ist. Verblüffend authentisch, ehrlich und mit viel Liebe zum Detail.

„Mein Leben im ‚Thüringer Dreieck‘“ von Ulrich Wenger ist im Verlag Books on Demand, Norderstedt, 2008 erschienen. Es hat 134 Seiten und 17 Abbildungen und ist für 12,90 Euro beim Autor (ulrich.wenger@wenger-vermessungstechnik.de; 03641/450882, 450881) sowie in der Lutherbuchhandlung in Schmalkalden erhältlich. ISBN: 9783837054835.