Schmalkalden - Avital Ben-Chorin ist 87 Jahre alt. Eine elegante zierliche Dame mit pechschwarzem Haar und großen silbernen Ringen an den schlanken Fingern. Als Erika Fackenheim wurde sie in Eisenach geboren. "Wenn Sie mit dem Ort nichts anzufangen wissen, mache ich darauf aufmerksam, dass außer mir Johannes Sebastian Bach hier zur Welt kam." Und schickt eine Portion Ironie hinterher: "Eisenach, die Wartburg - deutscher geht es wohl kaum."

Erika war ein Einzelkind, die Familie nur noch lose dem Judentum verbunden. Der Großvater ein renommierter Arzt, die Tante eine Dichterin. Zwei wunderbare Menschen, die das aufgeweckte Mädchen prägten, wie "meine lieben Eltern". Ihre Kindheit in Thüringen hat Avital Ben-Chorin in "schöner Erinnerung", eine Kindheit, die mit ihrem zehnten Lebensjahr endete. Dann kam Hitler an die Macht und die Grausamkeiten begannen. In Eisenach bereits am 1. April 1933, mit dem ersten Boykotttag jüdischer Geschäfte, mit Naziaufmärschen und -umzügen. Ein Datum, das Avital Ben-Chorin auch deshalb nie vergessen wird, weil es der Geburtstag "meiner lieben Mutter war".

In der damaligen Charlottenschule, heute Goetheschule, wurden die jüdischen Schüler schikaniert. Hartmann, Lehrer Hartmann, ein Obernazi, "der machte seinem Namen alle Ehre." Wenn Avital Ben-Chorin spricht, erhebt sie sich von ihrem Stuhl, stützt sich dabei ein wenig am Tisch ab. "Ich will meine Zuhörer sehen", sagt sie, "sehen, zu wem ich spreche".

Der Schalk blitzt aus ihren dunklen Augen. In einem perfekten Deutsch mit thüringischem Akzent - den habe sie sich erhalten - plaudert die hochbetagte Dame über die Zeit nach ihrer Rettung, ihren Neubeginn in Palästina - mit 13 Jahren, auf sich allein gestellt in einem Kinderheim nahe der Haifa-Bucht. Ein jüdisches Kind, das erst mit zehn Jahren jüdischen Religions- und Hebräischunterricht erhielt, von der Geschichte so gefesselt war, dass es sich von einem jüdischen, zionistisch ausgerichteten Pfadfinderbund anwerben ließ und regelmäßig in die Synagoge ging. "Letztlich habe ich das religiöse Judentum und den Zionismus zu meinen Eltern gebracht", erinnert sich die 87-Jährige. Wenn sie schon in der Schule schikaniert wurde und leiden musste, wollte sie wenigstens wissen, warum.

Mehr als anderthalb Stunden schildert die 87-Jährige ihre bewegende Lebensgeschichte nach der Einwanderung in die Heimat, "dem Ziel der Zionisten", immer im lockeren Dialog mit Ilse Neumeister, Moderatorin und Freundin der Familie, ab und an unterbrochen durch Tochter Ariela, die selbst erzählt oder die Erinnerungen ihrer Mutter konkretisiert.

Das Publikum im Reinhard Naumann Haus hört aufmerkam zu, lacht mit der Zeitzeugin, wenn sie "Schoten" aus ihrem Leben erzählt, zum Beispiel, dass sie als Neuankömmling im Judentum nicht sattelfest war und "alles falsch machte, was nur falsch zu machen war". Oder dass ihr erste Liebe, die sie bei der Vorbereitung auf die Ausreise in Berlin kennengelernt hatte, in Palästina nichts mehr von ihr wissen wollte. "Er war in der Jugendgruppe, ich ein Kind und ihm offenbar peinlich." Während der Belagerung Jerusalems 1947, als sie mit den knappen Lebensmitteln haushalten musste, fiel ihr die deutsche Weise ein: "Mit einem Eimer Wasser wische ich das ganze Haus, und was davon noch übrigbleibt, da koche ich Kaffee draus." Noch heute, mehr als 60 Jahre danach, schüttelt Avital Ben-Chorin immer noch ungläubig den Kopf. "In der schweren Zeit geht mir dieses Lied durch den Kopf ...".

Doch die kleine Frau muss noch immer weinen. Als sie von der letzten Karte ihres Vaters spricht, ein letzter Gruß aus Theresienstadt vom Oktober 1944 mit dem Satz "Wir müssen verreisen", versagt der 87-Jährigen die Stimme. Eltern und Großvater haben den Holocaust nicht überlebt.

Und immer wieder spricht Avital Ben-Chorin von "meinem lieben Mann" Shalom Ben-Chorin, dem Wegbereiter des christlich-jüdischen Dialogs, Autor zahlreicher literarischer und theologischer Werke, der an Universitäten lehrte, mit akademischen Titeln und hohen Auszeichnungen geehrt wurde. 1942 wurden die beiden ein Paar. Mitten im Krieg schrieb der 1913 in München geborene und 1935 nach Jerusalem emigrierte Fritz Rosenthal - so der deutsche Name - Liebesgedichte. Zum Beispiel das vom Mandelzweig, der "wieder blüht und treibt". Als "Das Zeichen" vertont, hat die 1942 in Anlehnung an Jeremia 1,11 entstandene Hommage an das Leben Eingang in das Gesangsbuch der evangelischen Kirche gefunden. Natürlich weiß Avital Ben-Chorin auch eine Geschichte zu diesem prachtvollen Mandelbaum zu erzählen, der gegenüber ihrem Haus in Jerusalem stand, später einer Toreinfahrt weichen und irgendwann Wurzeln schlagend wieder erstand. Letztendlich aber sei der Baum dann doch gestorben. In Erinnerung an "Das Zeichen" pflanzte Ben-Chorin in ihrem Garten einen eigenen Mandelbaum. "Unwissenheit erzeugt Misstrauen, Misstrauen erzeugt Hass, Hass erzeugt Gewalt" - diese Kettenreaktion wollte Shalom Ben-Chorin, der 1999 in Jerusalem verstarb, unterbrechen. "Wir müssen mehr voneinander wissen, um einander zu begegnen", sagt die Witwe, die das Werk ihres Mannes weiterführt. Gemeinsam waren die Eheleute, die der Glaube, die Liebe zu Israel und die Botschaft des Friedens und der Verständigung eng verband - auf zahlreichen Vortragsreisen in der Bundesrepublik unterwegs, 1956 zum ersten Mal. Erst 1986 durften Shalom Ben-Chorin und seine Frau Avital in die DDR einreisen. In Eisenach hielt er drei Vorträge, gab einen lebendigen Einblick in die jüdische Religion und das Verhältnis zwischen Christen und Juden. Diese Beiträge sind vor zehn Jahren unter dem Titel "Von Angesicht zu Angesicht" in zweiter Auflage in einem christlichen Verlag erschienen. Den Druck hatte der damalige Kultusminister Dr. Krapp ermöglicht.

In Schmalkalden, zur Eröffnung der 30. Friedensdekade, spricht Avital Ben-Chorin auch von ihrer Vision: "Frieden", sagt sie, "wäre wunderbar". Die Menschen in Israel wünschen sich so sehr Frieden. Der könne aber nur herrschen, wenn auch "die andere Seite" kompromissbereit sei.

Politisch engagiert sich die 87-Jährige nicht. Ihr persönlicher Traum wäre ein Erstarken der von Shalom Ben-Chorin gegründeten Reformbewegung, ein Wachsen der Gemeinden, denen der Inhalt des Judentums am Herzen liegt und nicht die Form, die von den Orthodoxen stark betont wird.