Ilmenau - Vom Auftakt der interkulturellen Tage im Ilm-Kreis kann man weit mehr erwarten als ausgedehnte Begrüßungsreden vor geladenen Gästen, wenn ein Schriftsteller vom Kaliber eines Landolf Scherzer den Vortrag hält. Als "Vorgelagerter" begrüßte Scherzer am Montagabend 170 Zuhörer in der Ilmenauer Stadtbibliothek, als Frühgeburt sozusagen: Wegen seines vollen Terminkalenders wurde die Lesung als erste Veranstaltung vorverlegt. Die multikulturelle Woche mit Musik, Tanz, Theater und Lesungen beginnt am kommenden Sonntag.

Die Plakate von Ilmenauern, die sich mit ausländischen Mitbürgern ablichten ließen, hängen in den Schaufenstern der Stadtbibliothek. Scherzer kennt die Poster gut, im vergangenen Jahr war die Aktion als Initiative gegen ein geplantes Fest der NPD-Jugend in Ilmenau entstanden. Damals hatte er mit dem Thüringer Literaturquartett hier gelesen.

Kandidat aus Frauenwald

Am Montag bedankte er sich beim Ilmenauer Publikum für diese Initiative. Geplant ist die Lesung seines Buches "Immer geradeaus", das ihn durch Osteuropa führte. Doch Landolf Scherzer will aus aktuellem Anlass mit einer anderen Geschichte beginnen: "Auch wenn es etwas länger dauern wird, ich hab mir gedacht: Scherzer, lies das vorneweg!" Im Jahr 1999 hatte er den Text "Der blonde Thüringer" zu Papier gebracht, zu finden in seinem Buch "Die Fremden". Protagonist der Geschichte ist ein früherer Frauenwalder Bürgermeisterkandidat, der sich im Ort zwar verdient gemacht hatte, aber plötzlich für die als politisch rechtslastig bekannte DVU kandidierte. Für den Job des Bürgermeisters ebenso wie für den Thüringer Landtag, wo Scherzer nach ausgiebiger Recherche seinerzeit die Spitzenkandidaten der rechten Parteien ausfindig gemacht hatte, um sie zu besuchen und zu interviewen. Der Frauenwalder Bürgermeisterkandidat, meint Scherzer, habe damals ähnliche Thesen aufgestellt wie vor einigen Tagen der Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin in seinem aktuellen Buch.

Der Frauenwalder DVU-Kandidat ist der in Scherzers Buch beschriebene blonde Thüringer, ihm hat Scherzer 1999 auf den Zahn gefühlt. Er habe Scherzer zur Begrüßung für seine Pünktlichkeit ("eine deutsche Tugend") gelobt und später gesagt: "Wir brauchen einen gesunden Anteil der Ausländer zu den Deutschen, und diesen Anteil muss das deutsche Volk selbst bestimmen können."

Eine Randnotiz: Der Protagonist in "Der blonde Thüringer" ist längst nicht mehr aktiv. Scherzer nennt ihn im Buch und auch zur Lesung dennoch mehrfach beim Namen: Es ist Otto Reißig, der in Frauenwald Gemeinderat war. Heute lebt der Mann krankheitsbedingt sehr zurückgezogen, so ist von einer Frauenwalder Gemeinderätin zu erfahren.

Getan, was verlangt wird

Scherzer selbst aber kommentiert im Text nichts, er erzählt lediglich und lässt Fakten und Gesprächsnotizen für sich sprechen. So gewinnt der Text an Aktualität und schafft den Sprung zum Einstieg in die Interkulturelle Woche, die sich heuer mit der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung beschäftigen wird - passend im "Jahr der Europäischen Kirchen zur Migration". Die Mottos hören sich sperrig an, Scherzer kommentiert das mit auflockernden Worten: "Ich habe immer nur getan, was von mir verlangt wird." Hier und heute tue er demzufolge nur, was die Bibliothekarin und die Gleichstellungsbeauftragte Heidrun Wedig von ihm verlangt hätten.

So tut er also und liest aus seinem Buch "Immer geradeaus". Eine mehrwöchige Wanderung führte ihn durch Rumänien, Serbien, Kroatien; ließ ihn auf fremde Kulturen treffen und die Gastfreundschaft von Zigeunern spüren. Scherzer erklärt, dass er sie nicht abwertend Zigeuner nennt - übersetzt nennen sie sich selbst so.

Es liegt wohl mehr an Landolf Scherzers interessanten und geistreichen Texten als am Überschwappen des interkulturellen Gedankens, dass sich das Publikum amüsiert und fasziniert von der Lesung zeigt. Die Schlange der Autogrammjäger ist danach lang und geduldig, der Autor signiert unermüdlich.

Nächste Woche wird sein neues Buch erscheinen: "Letzte Helden". Darin beschreibt er Erfahrungen in Tschernobyl und als Helfer an einer Eisenacher Lebensmittel-Tafel. Ilmenauer Literaturfans haben schon einen Vorgeschmack bekommen. Im vergangenen Jahr, als die Plakate entstanden, hatte Landolf Scherzer mit dem Literaturquartett in der Bibliothek einen Text daraus gelesen.