Hildburghausen Corona-Frust, Pfefferspray, scharfe Worte und Inzidenz von 630

Der Landkreis Hildburghausen gilt derzeit als Deutschlands schwierigster Corona-Hotspot. Dennoch protestierten am Mittwochabend etwa 500 Menschen gegen den lokalen Lockdown in Hildburghausen auf dem Markt und zogen durch die Stadt. Die Polizei setzte Pfefferspray ein, um Gruppen zu trennen und fertigte mehr als 30 Anzeigen. Die Reaktion aus der Landespolitik ist scharf. Laut Robert-Koch-Institut liegt der Inzidenz-Wert am Freitag bei 630.

 
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Hildburghausen - Nach den Protesten in Hildburghausen gegen die dort verschärften Corona-Auflagen hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) die Demonstranten harsch kritisiert - und mit Konsequenzen gedroht, sollte gegen die im Landkreis seit Mittwoch geltenden Corona-Beschränkungen erneut derart umfassend verstoßen werden. Sollten sich solche Proteste, bei denen die simpelsten Abstands- und Hygieneregeln oftmals nicht eingehalten wurden, wiederholen, müsse es in dem Landkreis eine neue „Ausgangseinschränkung“ geben, sagte Ramelow am späten Mittwochabend nach einer Videoschalte der Länder und des Bundes zur weiteren Entwicklung in der Corona-Pandemie. Eine Form dieser strengeren Ausgangsbeschränkungen sei, dass die Menschen dann einen Nachweis bei sich tragen müssten, aus welchem Grund sie ihre Wohnungen und Häuser verließen. „Das hat im Übrigen Bayern im Frühjahr so gemacht“, sagte Ramelow.

Mehrere hundert Teilnehmer waren am Mittwochabend in Hildburghausen demonstrativ um den Marktplatz durch die Innenstadt gezogen. Bei dem als angeblich individueller Spaziergang getarnten Aufmarsch skandierten einige die Parole „Frieden, Freiheit, keine Diktatur. Sie sangen «Oh, wie ist das schön!» und sorgten damit vielfach für Fassungslosigkeit.

Unter dem Motto „Du trägst die Verantwortung für die Zukunft deiner Kinder - Unternimm was“, war in den sozialen Medien anonym zu einem nicht angemeldeten Treffen auf dem Marktplatz aufgerufen worden. Der Aufruf richtete sich auch gegen den Landrat, der angesichts der steigenden Infektionszahlen im Landkreis eine strengere Corona-Verordnung mit durchgesetzt hatte. Sie enthält die vorübergehende Schließung von Schulen und Kitas sowie zeitliche Ausgangsbeschränkungen.

Die meisten Teilnehmer hielten sich auf dem Marktplatz und beim Marsch durch die Innenstadt nicht an die Abstandsregel und trugen keinen Mund-Nasen-Schutz. "Falls nochmal jemand fragt warum unser Inzidenzwert über 500 liegt... Gerade Versammlung "besorgter Eltern" in #Hildburghausen nach dem Total-Lockdown", kommentierte eine Hildburghäuserin auf Twitter die Aktion.

Der Polizeieinsatzleiter schätze die Zahl der Teilnehmer auf etwa 150 Beobachter sowie andere Polizeikräfte sprachen von gut 400 bis zu 500 Teilnehmern. Weil mehrfache Versuche, die Teilnehmer zum Verlassen des Marktes und des Protestzuges zu bewegen, fehlgeschlagen seien, habe erst der Einsatz von Pfefferspray dazu geführt, dass sich Teilnehmergruppen trennen, teilte die Polizei in der Nacht zum Donnerstag mit. Verletzte habe es nicht gegeben. Zahlreiche Verstöße gegen die geltenden Infektionsschutzregelungen seien festgestellt worden. So wurden Mindestabstände nicht gewahrt, Masken nicht getragen und die eigene Wohnung ohne triftigen Grund verlassen. Insgesamt seien mehr als 30 Anzeigen gefertigt worden. Am Polizeieinsatz waren Beamte der Polizeiinspektion Hildburghausen und der Bereitschaftspolizei Thüringen beteiligt.

"Ich bin fassungslos!", schreibt der Bürgermeister von Hildburghausen Tilo Kummer auf Facebook. "Der Markt in Hildburghausen ist voller Menschen! Etliche tragen keine Masken! Was muss denn noch passieren, bis manche den Ernst der Lage begreifen? Ganze Kitas, Schulen, Rettungswachen, Feuerwehren mussten bereits in den letzten 2 Wochen in Quarantäne. Etliche Menschen, vor allem aus betroffenen Pflegeheimen, kämpfen aktuell in unserem Kreis um ihr Leben. Kann man da nicht mal 2 Wochen Abstand halten?", fragt er äußerst besorgt.

Ramelow sagte, die Demonstranten hätten sich im höchsten Maße unsolidarisch vor allem mit denen verhalten, die ein hohes Risiko hätten, an Covid-19 zu sterben. Wer mitten in einer Pandemie ein derartiges Verhalten an den Tag lege, provoziere eine Situation, in der es irgendwann für schwer erkrankte Corona-Infizierte nicht mehr genügend Notfallbetten gebe. „Deswegen werbe ich dafür, nicht leichtfertig das aufzugeben, was man an gemeinsamer Solidarität in der Region hat“, so Ramelow.

Am Donnerstag gab es auch Kritik am Vorgehen der Polizei in Hildburghausen. Die anwesenden Polizisten hätten den während der Demonstration begangenen Verstößen gegen die Corona-Auflagen überwiegend tatenlos zugesehen, sagte die Sprecherin einer Vernetzung von Thüringer Bündnissen gegen Rechtsextremismus, Diana Hennig, unserer Zeitung. „Es wird einfach nicht durchgegriffen.“

In einer neuen Allgemeinverfügung hatte der Landkreis wegen der stark angestiegenen Zahl von Neuinfektionen die Regeln in der Corona-Pandemie verschärft. Zum Verlassen der Wohnung müssen triftige Gründe vorliegen. Schulen und Kindergärten bleiben geschlossen.

Im Landkreis Hildburghausen ist der Kennwert der Corona-Neuerkrankungen binnen sieben Tagen gerechnet auf 100.000 Einwohner weiter angestiegen: Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts lag die Inzidenz für den Kreis in der Nacht zum Freitag um Mitternacht bei 630. Am Donnerstag war eine Inzidenz von 603 ausgewiesen worden. Damit liegt der Kreis Hildburghausen weiter an der Spitze im Inzidenz-Vergleich aller deutschen Landkreise und kreisfreien Städte. 63 neue Fälle wurden binnen 24 Stunden registriert, 1.044 Personen im Kreis sind aktiv infiziert. Wegen der explodierenden Infektionszahlen gilt in dem Kreis seit Mittwoch ein harter Lockdown. Die rund 63.000 Einwohner dürfen bis zum 13. Dezember ihre Wohnungen nicht mehr ohne triftigen Grund verlassen, Schulen und Kindergärten wurden geschlossen. rdl/it/cob/sh/dpa

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