Punktgenau zum 60. Geburtstag sollte es eine Geburtstagssendung im Rundfunk geben. Doch wann war der Punkt? Es hieß: Am 14. April 1951. So steht's überall im Netz. Doch die Beteiligten von damals beharrten auf dem 15. April. Die Leute in Suhl, vom Freundeskreis "Herbert Roth" und von der Gaststätte in Hirschbach, dem Uraufführungsort, müssen es ja wissen. Hier sind wir nicht im Radio. Was gedruckt wird, sollte stimmen. Also stimmen wir gemeinsam ein: Am 15. April, gestern vor sechzig Jahren war's, da erklang: "Ich wandre ja so gerne, am Rennsteig durch das Land. . ."

Ein paar Textzeilen kennt jeder. Wenn viel Volk das Lied kennt, gar mitsingt, könnte man es Volkslied nennen. Fern von Thüringen glaubt man dies ohnehin. Doch wie es wirklich war, hat Textdichter Karl "Kaschi" Müller, Herbert Roths Freund, schon vor anderthalb Jahrzehnten aufgeschrieben: Nachkriegszeit; zerbombte Städte, intakte Dörfer, knurrende Mägen. Der Dorfsaal des Gasthofs Hirschbach bei Suhl, proppevoll. Hundertfünfzig Zuhörer, hungrig nach Zerstreuung. Denen ging die Heimat ins Ohr. Müller wusste, warum: "Wir spürten, dass die Besucher unsere Art Musik liebten. Sie fanden quasi ihre Nachbarn und ihre Instrumente auf der Bühne wieder. Schließlich das Rennsteiglied als Zugabe: Applaus, da capo, gleich mehrfach. Damit hatten wir nicht gerechnet. Herbert Roth war, so glaube ich, der Glücklichste von uns."

Die "Suhler Volksmusik", wie die Gruppe hieß, hatte den Krieg heil überstanden: Herbert Roth, der gelernte Friseur, die Verkäuferin Waltraud Schulz, der Fleischer Willi Kiesewetter; Paul Schulz, Mechaniker, Emil Lampe, Werkzeugmacher. Und der Texter, Sprecher und angehende Lehrer Karl Müller. Der in seinen Erinnerungen Herbert Roth zu Wort kommen lässt: "Als ich 1950 im Sender Weimar wegen erster Rundfunkaufnahmen vorsprach und auf den Musikredakteur in einem Studio fast zwei Stunden warten musste, führten die Gedanken an die heimatlichen Berge und Wälder meine Hand zur Melodie des "Rennsteigliedes."

Von der Hand zum Erfolg. Eines Liedes, das mit melodischer Schmiegsamkeit und wundersamer Anpassungsfähigkeit bester Beweis eines wahren Volksliedes ist. Doch bis dahin hatte das Rennsteiglied ideologische Kämpfe auszufechten. Wir sind in den fünfziger Jahren, als man in der DDR gegen Formalismus kämpfte. Zum Beispiel in dieser Zeitung am 3. Juni 1953: "Es ist nicht wahr, dass es so in den Bergen klingt, wie Herbert Roth musiziert. Wir bauen heute die Straßen des Sozialismus auch auf den Höhen des Thüringer Waldes. Warum spiegelt sich diese Entwicklung nicht in Herbert Roths Rennsteiglied wieder? Eine Musik, die nicht anknüpft an das Kulturerbe und revolutionär um das Neue ringt ist formalistisch. Es ist unverantwortlich, eine solche Musik zu produzieren und zu popularisieren." Und das "Zentralhaus für Volkskunst" donnerte 1956: "Wir erwarten, dass Sie uns helfen, die Herbert-Roth-Invasion, diese Überschwemmung unserer Arbeiter und Bauern mit 'Gefühlchen' und 'Filzlatschen Tandaradei' einzudämmen und schließlich zum Versickern zu bringen."

Gelegentlich gelang es: Das Versickern. Eine Frau der Generation zwischen vierzig und fünfzig fühlt sich als Rennsteiglied-Kennerin von ihren Generationsgefährten alleingelassen. Sie meint: "Niemand sonst kennt das Lied! Aber das liegt eben an meiner Oma, Jahrgang 1908. Die war eine glühende Herbert-Roth-Verehrerin, die hatte tatsächlich von dem alle Platten. Ich musste sie meine ganze Kindheit über hören und ich musste alle Lieder mitsingen." Andere dieser Generation sind unverblümt: "Ich hab das schon als Kind, als ich noch überhaupt keine Meinung zu irgendwas hatte, als kotzsterbenslangweilig empfunden - Herbert Roth!" Ein Berliner Musiker hingegen ist voll des Lobes: "Der Mann war sehr erfolgreich. Ich finde, wenn man seinen Weg geht und eine Sache durchzieht, dann stellt sich irgendwann zwangsläufig mal der Erfolg ein. Der hat so viele Menschen damit angesprochen, das ist noch richtiges deutsches Liedgut und so was vermisse ich heute ganz und gar."

In Weimar aber vermissten im Mai 1956 etwa vierzig Studenten dieses Lied überhaupt nicht. Sie demonstrierten dagegen. Gaffer schlossen sich an, so dass schließlich 300 Leute vorm Theater standen. Die Polizei musste für die Musiker eine Gasse zum Auftritt bahnen - angeblich war dies die einzige unangemeldete Demo zwischen 1933 und 1989 in der Klassikerstadt.

Karin Roth, Herbert Roths Tochter, damals sechs Jahre alt, erinnert sich: "Ich erfuhr, dass damals die Studenten auch den Robur-Bus angegriffen hatten, die Schilder runterrissen, die Plakate runterrissen und anbrannten. Überall wurde Polizei eingesammelt, um das in Griff zu kriegen. Das wollte mir damals, als junger Mensch, gar nicht in den Kopf."

Im fernen Berlin kam dank einer RIAS-Meldung an, dass man gegen Walter Ulbricht demonstriert hätte. Ein Student wurde exmatrikuliert, für andere gab es Stipendienkürzungen. Doch dann wendete sich alles zum Guten. Für das Rennsteiglied und seine Schöpfer. Denn man durfte vor Lotte und Walter Ulbricht im FGDB-Ferienzentrum Oberhof auftreten. Beide waren angetan, so dass es seit 1959 im Deutschlandsender - später "Stimme der DDR" - regelmäßig eine eigene Radiosendung gab unter dem Motto "20 Minuten mit Herbert Roth und seiner Instrumentalgruppe". Lediglich das Hamburger Hafenkonzert konnte neben dieser Einmaligkeit in der deutschen Rundfunklandschaft bestehen.

Gewiss, später geschah noch manch Böses. 1977 kam eine Platte der Gruppe MTS (Mut-Tatendrang-Schönheit) auf den DDR-Markt und darauf war zu hören: "Nunmehr ein Lied, bei dem wir das Publikum immer gerne auffordern, etwas mitzujodeln. Wir leiten es immer gern mit einem Zitat von Lothar Kusche ein. Lothar Kusche hat mal gesagt: 'Gartenzwerge zeichnen sich gegenüber Herbert Roth dadurch aus, dass sie nicht singen'"

Das hatte ein Nachspiel. Der zitierte Feuilletonist Lothar Kusche bemerkte sarkastisch: "Schon drei Jahre später hatte Herbert Roth in seinem kleinen Haus am Wald offenbar klingeln gehört, wie es außerhalb der dortigen Berge klingt." Denn der Manager von Herbert Roth versuchte wegen Verunglimpfung zu prozessieren. Zum Glück wurde ihm klargemacht, dass man nicht wegen einer Bemerkung aus den Fünfzigern, die in den Siebzigern mal wiederholt wurde, 1980 klagen kann.

So gibt es denn bis heute vor allem Anekdoten um das Rennsteiglied. Eine Musikschülerin aus Gera verdiente sich so ihre erste Westmark, just am Rennsteig: Sie stieg auf eine Bank und sang unbekümmert vor kanadischen Touristen vom Weg auf den Höhn, den sie oft gegangen. Die Touristen waren begeistert und spendabel. Es gibt sogar heavy-metal-Versionen und alle gesamt-deutschen Volksmusikanten und Vöglein singen auf den Höhn ihre Lieder, von Florian Silbereisen bis Stefanie Hertel. Viel zu früh ist er leider gestorben, der Herbert Roth. Aber sein Lied, das wird wohl mindestens so lange leben, wie es Wanderer am Rennsteig gibt.

Das Rennsteiglied

Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land,

den Beutel auf dem Rücken, die Klampfe in der Hand.

Ich bin ein lust'ger Wandersmann, so völlig unbeschwert.

Mein Lied erklingt durch Busch und Tann, das jeder gerne hört.

Diesen Weg auf den Höh'n bin ich oft gegangen, Vöglein sangen Lieder.

Bin ich weit in der Welt habe ich Verlangen, Thüringer Wald nur nach dir.

Durch Buchen Fichten Tannen, so schreit ich durch den Tag,

begegne vielen Freunden, sie sind von meinem Schlag.

Ich jodle kräftig in das Tal, das Echo bringt's zurück,

den Rennsteig gibt's ja nur einmal, und nur ein Wanderglück.

An silberklaren Bächen sich manches Mühlrad dreht,

da rast' ich wenn die Sonne so glutrot untergeht.

Ich bleib so lang es mir gefällt, und ruf es allen zu.

Am schönsten Plätzchen dieser Welt, da find ich meine Ruh.