Das Potsdamer Fontane-Archiv widmet sich der Forschung über Theodor Fontane (1819-1898) und bewahrt unter anderem rund 20 000 Blatt Originalhandschriften des märkischen Dichters auf, darunter Manuskripte zu Romanen und Gedichten. Der Bestand an Briefen von und an Fontane gilt nach Archivangaben als wohl umfangreichste Sammlung der Korrespondenz des Dichters. Im Jubiläumsjahr 2019, zum 200. Geburtstag Fontanes am 30. Dezember 1819 in Neuruppin, sollte der Schriftsteller als "überaus vielfältiger Autor" ins Bewusstsein rücken, der bis heute aktuelle Themen bearbeitet hat, sagt der Literaturwissenschaftler und Leiter des Archivs, Peer Trilcke.

Zur Person

Peer Trilcke wurde in Hamburg geboren, studierte Literatur, Medien, Skandinavistik und Philosophie in Kiel. Seit April 2016 ist er Juniorprofessor für deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt Theodor Fontane an der Universität Potsdam. Seiner Forschungen berühren Themen wie "Fontane in der Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts", "Digitale Literaturwissenschaft" oder "Theorie und Praxis des Archivs". Weitere Arbeitsfelder sind: Theorie und Geschichte der Lyrik, Gattungstheorie, Literatursoziologie, Angewandte Literaturwissenschaft.

Wie sind Sie zu Fontane gekommen?

Auf eine denkbar naheliegende, aber dennoch faszinierende Weise, nämlich durch die Schullektüre von "Effi Briest". Eingenommen hat mich dabei nicht nur die tragische Geschichte einer Frau, die nach Spielräumen für die eigene Entfaltung in einer von Männlichkeit dominierten Gesellschaft sucht und daran zugrunde geht. Auch die Art, wie Fontane erzählt, wie er dieses feine Gewebe aus Anspielungen und Symbolen spinnt, hat mich nachhaltig begeistert, für Fontane - und für Literatur überhaupt. Wenn Effi zu Beginn des Romans beim übermütigen Schaukeln gezeigt wird, sich aber später, als Ehefrau des biederen Innstetten, im häuslichen Schaukelstuhl langweilt, dann symbolisiert das auf brillante Weise, wie Effis spielerische Übermut gezähmt, wie ihre Sehnsucht nach Freiheit gebändigt wird.

Welche Bedeutung hat Theodor Fontane als Schriftsteller in der Literaturgeschichte und in der Gegenwart?

Mit Fontane beginnt die Geschichte des modernen Gesellschaftsromans in Deutschland. Seine Figuren sehen sich mit sozialen Zwängen und Rollenmustern konfrontiert, die gar nicht so weit entfernt sind von denen der heutigen Gesellschaft. Am Ende stellt Fontane immer wieder die Frage, wie man in komplexen gesellschaftlichen Gefügen, mit all diesen Ansprüchen und Erwartungen, glücklich werden kann. Und er spürt jenem "Gesellschafts-Etwas" und jenen sozialen "Angstapparaten" nach, die uns immer wieder einen Strich durch die Glücksrechnungen machen.

Darüber hinaus hat Fontane, auch das macht ihn heute so interessant, eine sehr moderne Berufsbiographie. Er war, was man heute Medienarbeiter nennt: Lange Zeit war er als Journalist tätig, unter anderem auch als Auslandskorrespondent, nebenbei hat er als Freelancer an Buchprojekten gearbeitet. Und immer wieder musste er sich den Lebensunterhalt durch ungeliebte Auftragsarbeiten verdienen. Dabei wusste Fontane sehr geschickt in der Medienwelt seiner Zeit zu agieren, auch was die Medienpraktiken betrifft: Cut, copy & paste, serielles Erzählen, Montage gehörten bei ihm zum alltäglichen Handwerk.

Was wird das Fontane-Archiv zum Fontane-Jahr beitragen?

Unser größter Beitrag ist ein internationaler Kongress, den wir im Juni an der Universität Potsdam durchführen. Es geht um "Fontanes Medien", also zum einen darum, wie sich Fontane als Autor der zahlreichen Medien seiner Zeit bediente und wie er diese Medien reflektierte: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Briefe, aber auch die Bildkunst, die Fotografie, die Telegrafie, das Theater. Das 19. Jahrhundert war eine medial bewegte Zeit, Fontanes Autorschaft ist ohne diese mediale Bewegung nicht zu verstehen. Zum anderen wollen wir untersuchen, in welchen Medien Fontane überliefert wird: Welche Rolle spielen die zahlreichen Verfilmungen seiner Romane? Welche ikonischen Porträts von Fontane gibt es? Und wie erscheint Fontane in den digitalen Medien?

Sie haben bereits im Vorfeld des Jubiläums mit ungewöhnlichen Projekten wie dem philologischen Hackathon, einer Veranstaltung zur Software- und Hardware-Entwicklung, mit dem Titel "Der Fontane-Code", auf verschiedene Facetten des Schriftstellers aufmerksam gemacht. Was haben Sie bei dem Hackathon gemacht und was waren die wichtigsten Ergebnisse und Erkenntnisse?

Auf dem Hackathon haben wir Fontanes Werke mit Methoden aus den Digitalen Geisteswissenschaften untersucht. Unterstützt von Informatikern haben wir also digitale Analysen durchgeführt. Dabei ging es uns darum, durch Häufigkeitsberechnung und Mustererkennung bestimmte zählbare Eigenheiten von Fontanes Stil zu identifizieren. Als auffällig hat sich da zum Beispiel die starke Visualität in den Romanen erwiesen. Fontane erzählt sehr anschaulich, teils gar filmisch. Und es hat sich gezeigt, dass Fontane ein besonderes Faible für seltene und entsprechend originelle Wortbildungen hat.

Einige dieser Wortbildungen, und zwar die längsten einmaligen Substantive aus Fontanes Roman-Werk, werden in den aktuellen "Fontane -Blättern", der Zeitschrift des Fontane-Archivs, vorgestellt. Welche davon sind Ihre Lieblingswörter?

Mir persönlich hat es die "Schmetterlingsschlacht" besonders angetan. "Schmetterling" ist ja an sich schon ein kurioses Wort, ein so anmutiges Geschöpf, das zugleich das "Schmettern" im Namen trägt. Und dann eine ganze "Schmetterlingsschlacht"! Herrlich sind aber auch Wörter wie "Menschheitsbeglückungsidee" oder "Weltverbesserungsleidenschaft". Von beiden hätte man ja auch heute gern ein wenig mehr.

Welche ungewöhnlichen Projekte haben Sie noch vor?

Wir arbeiten am Theodor-Fontane-Archiv in verschiedenen Projekten an dem, was wir "Algorithmik des Archivs" nennen. Das heißt wir versuchen, die klassischen Methoden im Umgang mit Literatur zu erweitern und das Archiv und die Texte Fontanes mithilfe von Algorithmen zu erkunden und zu präsentieren. In einem Projekt gemeinsam mit Professor Marian Dörk von der Fachhochschule Potsdam erarbeiten wir zum Beispiel gerade eine innovative Visualisierung von Fontanes Bibliothek, da geht es darum, dass man mittels eines digitalen Interfaces (Schnittstelle) durch diese Bibliothek surfen kann. Auch bereiten wir die Präsentation von Handschriften Fontanes auf einer neuen Archiv-Website vor.

Welche Werke Fontanes sind zu Unrecht in Vergessenheit geraten und warum verdienen sie mehr Aufmerksamkeit?

Fontanes späte Lyrik etwa ist kaum bekannt, meist konzentriert man sich auf die berühmten Balladen. Dabei gibt es hier produktiv irritierende, auch politische Texte, etwa "Die Balinesenfrauen auf Lombok", ein kolonialismuskritisches Gedicht über ein Massaker im heutigen Indonesien. Und auch bei den Romanen gibt es so einiges zu entdecken. "Effi Briest" kennt jeder. Aber "Mathilde Möhring" oder "Stine" sind, gerade auch was die emanzipierten Frauenfiguren angeht, deutlich progressiver.

Was erhoffen Sie sich vom Fontane-Jahr?

Dass Fontane als ein überaus vielfältiger Autor in den Blick genommen wird, der sich auf eine, wie ich finde, sehr aktuelle Weise um die Vermittlung des Lokalen mit dem Globalen gekümmert und gesorgt hat. Dabei zeigt die Beschäftigung mit Fontane auch, dass es keine einfachen Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen und Widersprüche gibt. Insofern scheint mir Fontane ein Autor, mit dem wir nachhaltig im Gespräch bleiben sollten.