Es ist Samstagabend und ganz Leipzig liest. Buchstäblich. Allein zwischen 19 und 21 Uhr kann das Publikum zwischen 130 Lesungen in der Messestadt wählen. Insgesamt lesen an vier Tagen 1900 haupt- und nebenberufliche Schriftsteller. Der Thüringer Landesverband des Verbandes Deutscher Schriftsteller hat auch zu einer Lesung eingeladen. „Man hat uns nach Leipzig gesandt, um tapfer zu kämpfen“, sagt Moderator Jens-Fietje Dwars, Autor, Herausgeber und Filmemacher aus Jena. Tapferkeit brauchen die Thüringer an diesem Abend. Die Zahl ihrer Gäste lässt sich an zwei Fingern abzählen.

So umtriebig die Verlage des Freistaats auf der Buchmesse um Aufmerksamkeit buhlen, so schwer haben es die hiesigen Autoren, sich aus der Menge der nach Leipzig gekommenen Schriftsteller abzuheben. Zwar rackert der unermüdliche Matthias Biskupek aus Rudolstadt wie immer bis zum Umfallen und hetzt auch diesmal von Termin zu Termin. Zwar lässt sich Kultusminister Jens Goebel (CDU) persönlich über die Messe geleiten und nimmt dabei ein brandneues Exemplar der Thüringer Literaturzeitschrift „Palmbaum“ in Empfang. Zwar veröffentlicht der aus Weimar stammende Frank Willmann zusammen mit Jörg Dietrich (Weißensee) und der Magdeburgerin Anne Hahn eine Biografie über den Erfurter Punk-Rocker Dieter „Otze“ Ehrlich (1960-2005), welche auf viel Interesse auch über Thüringen hinaus stoßen dürfte – schließlich wurde Ehrlichs Punk-Band Schleimkeim einst zur Legende. Und mit ihrem aktuellen Jugendroman „Die verborgene Seite des Mondes“ hat Antje Babendererde aus Remptendorf im Saale-Orla-Kreis schließlich auch in Leipzig viele junge Leser überzeugt.

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Aktive Basis

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Doch zu dem riesigen Ozean der Träume, den die Buchmesse darstellt, tragen aktuelle gewichtige Werke Made in Thüringen nur ein paar Eimer voll bei. Das betrifft besonders die Belletristik-Sparte. Einst bestimmten Weimars Klassiker europäisches Denken mit. Schillers und Goethes Erben leben heute anderswo.

Mit 100 000 Euro fördert das Kultusministerium die Literatur im Jahr. Auch das vielleicht ein Grund dafür, dass die Thüringer Literaturszene momentan zwar über viel Bewegung an der Basis, aber kaum über größere Leuchtkraft verfügt.

Denn das Engagement an der Basis ist enorm. „Wir haben eine kleine, aber sehr lebendige Literatenszene“, betont Dietrich mit Nachdruck, „und das Gute ist, die Leute miteinander reden.“ Beispiele sind in der Tat zahlreich, Vereinigungen wie den Südthüringer Literaturvereine gibt es im Freistaat einige. Eben hat der Verein Lesezeichen den sanierten Südflügel der Burg Ranis übernommen und baut das alte Gemäuer damit weiter zu einem Literaturzentrum aus. Private Initiativen wie der Suhler Provinzschrei tun ein übriges, um die Literatur-Landschaft zu bereichern.

Dennoch: Junge Autoren aus Thüringen vom Schlage eines Clemens Meyer, eines Ingo Schulze (der immerhin in Jena studierte und in Altenburg als Dramaturg und Redakteur arbeitete), vom Schlage einer Julia Franck oder einer Juli Zeh, die viel zu sagen haben und damit den Nerv der Gesellschaft treffen, scheinen weit und breit nicht in Sicht. „Man kann nicht einfach von sich aus kommen und sagen, ich will bei ‚Leipzig liest‘ mitmachen“, erklärt Dietrich und legt zeigt damit unbewusst auf, woran es hiesigen Schriftstellern mangelt: „Man braucht einen Verlag oder einen Veranstalter.“

An schlagkräftigen Verlagen mangelt es Thüringer Literaten offenbar. Als Veranstalter ist in Leipzig ist immerhin der Landesverband der Schriftsteller eingesprungen. Für seine Lesung hat er als Ort eine kleine Bühne im Keller eines Teppich- ladens, gelegen in einer ruhigen Ecke des ruhigen Stadtteils Gohlis, gewählt.

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Statisten im Zirkus

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Viel ist nicht los. Döblin-Preisträgerin Kathrin Groß-Striffler aus Jena, die aus ihrem Band „Domino“ lesen wollte, musste wegen einer Zahnoperation absagen. So lesen Willmann und Dietrich amüssante Episoden aus dem tragischen Leben des Punkers Dieter Ehrlich. Für Groß-Striffler ist Moderator Dwars eingesprungen, er liest eigene Geschichten und preist die Bändchen der Edition Ornament an, die er herausgibt. Aktuelles Werk: „Bagatellen“ mit Prosaminiaturen des Weimarers Wolfgang Haak. Die bescheidene Auflage: 750, genau wie der „Palmbaum“, dessen Redakteur Dwars ist. Beate Bohn, in Eisfeld geboren, in Jena aufgewachsen und nun auf dem Sprung, nach Argentinien auszuwandern, stellt noch einige Gedichte vor: „Abgrund, wie leicht ich dich nehme.“

Sind die Thüringer Literaten, die kaum leuchten auf einem der größten Branchentreffs der Welt, der quasi vor der Haustür stattfindet, auch am Abgrund? Dwars rät, die Situation nicht überzubewerten. Auch wenn er, wie er einräumt, einer der wenigen Thüringer Autoren sei, die von der Literatur leben können.

Dwars: „Man sollte das realistisch sehen. Zynisch gesagt, ist die Buchmesse ein Zirkus, und wir sind die Statisten. Es geht darum, dass die großen Verlage Lizenzen verkaufen und ihre Werke in die Presse bringen. Das ist klar eine Kommerzialisierung. Aber ein Zirkus hat ja auch was für sich.“

Wichtig sei für die Thüringer Schriftsteller vor allem das, so Dwars, was daheim passiert. Und im kleinen Rahmen, ergänzt der Jenaer, abseits der Massenveranstaltungen, könne man viel besser spüren, ob die Worte beim Publikum ankommen. Dwars: „Auch wenn das ein paar wenige sind, ist es schön, und man schöpft den Mut, auch weiterhin etwas zu sagen.“ Bleibt trotzdem zu wünschen, dass Thüringer Literaten, die Wichtiges zu sagen haben, vielleicht trotzdem einmal von mehr Menschen auch damit gehört werden.