Aber Walter Kaufmann, der Verfasser des Reportagebuches, wurde am 19. Januar bereits 92 Jahre und hat "die ganze Welt" gesehen. Nicht als Tourist. Er hat sie erlebt und gelebt.

Der in Berlin geborene, in Duisburg bei jüdischen Zieheltern - einem Anwaltsehepaar, das später in Auschwitz umkam - aufgewachsene Adoptivsohn wurde 1939 mit einem der rettenden Kindertransporte als 15-Jähriger von Hitlerdeutschland nach England gebracht. Dort lebte er ein Jahr im Schulinternat. 1940 wurde er mit Tausend anderen Flüchtlingen nach Australien deportiert. Er arbeitete bei Bauern, diente vier Jahre in der Armee, fuhr als Seemann um die Welt, wurde Journalist und kehrte 1957 nach Deutschland zurück. Wenn er nicht in asiatischen, afrikanischen, australischen, amerikanischen und europäischen Ländern unterwegs war, ankerte er fortan in seinem Heimathafen Ostberlin.

Vier Stationen

In Reportagen, Erzählungen und Romanen hat Walter Kaufmann Erfahrenes, Erfundenes, Erlebtes und Gelebtes aus 90 Jahren aufgeschrieben. Mit seinem neusten Buch berichtet er über vier wichtige Stationen seines Lebens auf Reisen: Japan, Israel, Nordirland und den USA. Er beschreibt das Leben und Sterben nach dem Atombombenabwurf in Hiroshima, den Aufbau und die Auseinandersetzungen im neuen Staat Israel, den blutigen Terror der IRA in Nordirland und den Bürgerrechtskampf der Schwarzen in den Südstaaten der USA. Im letzten Bericht des Buches steht Walter Kaufmann vor den Trümmern des World Trade Centers in New York. Aber in dieser Reportage über den Terroranschlag vom 11. September 2001 formuliert Kaufmann nicht, was zuvor Tausende Journalisten beschrieben hatten. Er berichtet von den vielen Namenlosen und auf keiner Gedenktafel genannten Toten: den Obdachlosen, die in den unterirdischen Räumen der Türme in der Nacht Schutz gesucht hatten und am Morgen, als die Manager und Mitarbeiter der Macht in ihre Büroräume kamen, nicht mehr rechtzeitig die Kellerräume verlassen hatten. Er redete mit Obdachlosen, die überlebten.

Zurückhaltend

Schon die konkrete dokumentarische Darstellung der Erlebnisse in Japan, Israel, Nordirland und den USA wäre ein ausreichender Stoff für ein interessantes Buch gewesen. Aber Kaufmann verwandelt das Rohmaterial in poetische, persönliche und bildhafte Literatur. Auch das ist die Kunst seiner Reportagen. Im englischen Schulinternat erzählte Kaufmann seinen Mitschülern von Schlangenbeschwörern, Flickschustern und heiligen Kühen, die er in Kalkutta gesehen hätte. Für diese Lüge und seine Behauptung: "Eines Tages werde ich nicht bloß Indien, sondern die ganze Welt sehen", wird er von den anderen blutig geprügelt. Er hat seine Jugendlüge später zur Wahrheit und in den Büchern seine Fantasien zur Realität werden lassen. Dabei bleibt er in der Beschreibung der erlebten Abenteuer zwar immer der neugierige Autor, aber was seine Person betrifft, zurückhaltend und bescheiden. Kaufmann ist kein Pfau protziger Ich-Rhetorik, sondern eher ein Elefant, der Lasten schleppt. Lasten, die dem Leser zugleich die Schwere neuer Erkenntnisse als auch die Leichtigkeit des literarischen Genusses vermitteln. Um auf den Titel zurückzukommen: Nachdenken, Genießen und Sehnsucht, die noch unterwegs ist. Was die Sehnsucht des Rezensenten betrifft: Noch viele von diesen, unsere Zeit ehrlich beschreibenden Reportagebüchern des Lebensreisenden Walter Kaufmann.

Walter Kaufmann: "Meine Sehnsucht ist noch unterwegs" - Verlag Neues Leben, 14,99 Euro.