Wladimir Kaminer gilt als Autor mit ganz eigenem Sound. Für die einen ist er der Lieblingsrusse der Deutschen, andere sehen in ihm den "Kiez-Chronisten im Prenzlauer Berg" oder einfach nur einen Experten für Gurken. In seinem neuen Buch "Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger" erzählt der Wahlberliner humorvoll von kuriosen Erfahrungen, die seine lebenskluge Mutter im Lauf der Jahrzehnte gemacht hat. Wir sprachen mit ihm über seine Kindheit und Jugend in der Sowjetunion und sein Verhältnis zu seiner Mutter - und zu Deutschland.

Herr Kaminer, vor fünf Jahren schrieben Sie ein Buch über Ihre kaukasische Schwiegermutter, und jetzt gibt es auch eines über Ihre Mutter. Hat sie auf Gleichbehandlung gedrängt?

Wladimir Kaminer: Nein, im Gegenteil. Sie wollte zuerst überhaupt kein Buch. Und dann hat sie alles sehr ernst genommen, allein schon wegen dem Foto auf dem Cover mussten wir viel durchmachen. So wie sie war, hat sie sich zu Hause fotografieren lassen und dummerweise hat sie dieses Foto ihren Freundinnen und Tanten gezeigt. Und alle haben gesagt: "Bist du verrückt! Was ist das überhaupt für ein Pullover, den gibt es bei Aldi im Sonderangebot. Jetzt wird das ganze Land wissen, wo du dich einkleidest." Daraufhin bat meine Mutter mich, beim Verlag anzurufen. Es war furchtbar! Am Ende haben wir uns darauf geeinigt, dass wir ihren Pullover mit einem Computerprogramm verändern.

Wie findet Ihre Mutter das Buch?

Ich glaube, es ist das einzige deutschsprachige Buch, das sie vollständig gelesen hat. Sie wollte unbedingt wissen, was genau ich über sie geschrieben habe. Anschließend sagte sie zu mir: "Jetzt weiß ich endlich, was für ein abenteuerliches Leben ich eigentlich habe". Außer der ersten fand sie alle Geschichten gut - und staunte, wie genau ich unsere Gespräche wiedergegeben habe.

Haben Sie Ihre Mutter immer als modern erlebt oder merken Sie, dass sie eine Generation älter ist als Sie?

Schwer zu sagen. Meine Mutter hat so ziemlich alles mitgemacht, was die Sowjetunion in den letzten 70 Jahren so bereithielt für ihre Bürger. Das färbt ab und gibt den Menschen ein gemeinsames Schicksal. Modern kann ich aber nicht sagen, es war ein sehr enges Leben. In Moskau wohnten alle Menschen in sehr kleinen Räumen und waren jeden Tag auf die gleichen Dinge angewiesen. Man konnte sich dort kaum zu einer besonderen Persönlichkeit entfalten.

Aber Ihre Mutter mochte doch als junge Frau John F. Kennedy und übersetzte technische Texte aus dem Englischen ins Russische!

Alle Russen mochten JFK! Ich schwöre Ihnen, in Odessa am Schwarzen Meer lag der ganze Strand mit dem gleichen Englisch-Lehrbuch. Das hatte etwas damit zu tun, dass die Sowjetbürger ausländische Autoren nicht lesen konnten und ins Ausland nicht fahren durften. Zumindest aber hatten wir die Möglichkeit, die Fremdsprache zu lernen. Selbst wenn diese Texte keinen literarischen Wert hatten, waren es immerhin Texte aus dem Ausland. Und das wusste man zu schätzen.

Die Beziehung zur Mutter ist angeblich die schwierigste, komplizierteste und wichtigste Beziehung unseres Lebens. Wie empfinden Sie das?

Meine Beziehung zu meiner Mutter war sehr immer liebevoll. Wir sind uns nie in die Quere gekommen und haben uns immer geholfen. Egal, in was für eine schwierige Situation ich geriet, stets kam meine Mutter mit einem Glas voll gekochter Kartoffeln mit Petersilie an und hat mich gefüttert. Ob ich es nun im Pionierlager wegen zu strenger Disziplin nicht aushalten konnte oder in der Armee. Dort war ich an einem Raketenabwehrstützpunkt stationiert und wir dürften überhaupt keinen Besuch haben, weil es ein geheimes Objekt war. Aber im Wald hatten wir an einer Stelle Stacheldraht auseinandergerissen und da kroch meine Mutter im Schnee mit einem Glas Petersilienkartoffeln hindurch. Das wusste ich sehr zu schätzen.

Und wie haben Sie Ihre Mutter unterstützt?

Zum Beispiel als sie nach Deutschland kam. Zuerst wohnten wir zusammen, das war nicht so gut, aber dann habe ich ihr eine eigene Wohnung zwei Straßen weiter besorgt. Sie war die ganze Zeit in meiner Nähe. Auch heute telefonieren wir noch jeden Tag, auch wenn ich auf Lesereise bin, weiß ich genau, was meine Mutter gerade macht.

Gab es in Ihrer Jugend auch Konflikte zwischen Ihnen und Ihrer Mutter?

Mit meinem Vater habe ich mich gestritten. Er konnte mit meiner damaligen Hippieausstattung nichts anfangen. Ich weiß noch, wie wir uns mal an einer Bushaltestelle trafen und er zu mir sagte, ich solle drei Schritte Abstand halten, damit die Menschen nicht denken, wir gehören zusammen. Meine Mutter hingegen nahm mein Hippie-Outfit mit gebührender Gelassenheit hin. Als ich beschlossen hatte, in eine Kommune zu ziehen, brachte sie mir sogar eine dicke rote Decke vorbei, damit ich nicht friere. Die meisten Konflikte zwischen den Generationen entstehen dadurch, dass erwachsene Menschen eine klare Vorstellung von ihren Kindern haben. Sie versuchen, sie zu lenken und zu biegen in eine für sie genehme Richtung. So entstehen Konflikte. Ich finde, der Charakter eines Menschen sollte sich auf natürliche Weise herausbilden. Meine Mutter hat mir immer bestimmte Filme oder Bücher angeboten, aber sie hat nie darauf bestanden, dass ich sie auch konsumiere. Sie war immer sie selbst, mein Vater hingegen wollte immer größer erscheinen als er war. Ich glaube, ich habe ihre Gelassenheit geerbt.

Hat sie sich in Deutschland schnell einleben können?

Sie scheute sich nicht vor kleinen Jobs. In den ersten Jahren trug sie zum Beispiel Pizzawerbung aus. Dabei musste sie eigentlich gar nicht arbeiten, denn sie wurde noch in der DDR aufgenommen und diese hat ihre Lebensarbeitszeit bei der Rente anerkannt. Aber sie wollte nicht zu Hause sitzen und arbeitete lieber bei einer Altkleidersammlung. Inzwischen ist sie 84 und immer noch abenteuerlustig, obwohl ihre Gesundheit nicht mehr mitmacht.

Wie sind Sie von Ihrer Mutter behandelt worden, als Sie das erste Mal verliebt waren?

Mein Vater war deswegen sehr aufgeregt und wollte mir ständig irgendwelche Ratschläge geben. Meine Freundin gefiel ihm nicht und er betrat mein Zimmer ohne vorher anzuklopfen. Es war eine Katastrophe. Durch diese Katastrophe ist sogar das Schloss in meiner Zimmertür kaputtgegangen. Meine Mutter sagte gar nichts dazu.

Wer hatte früher das Sagen, Vater oder Mutter?

Mein Vater konnte sehr laut sein, aber das Sagen hatte meine Mutter. Wenn ich Ihnen sagen würde, dass bei uns in der Sowjetunion Gleichberechtigung herrschte, würden sie es mir nicht glauben. Aber es war so. In der Sowjetunion stellte sich die Frage gar nicht, ob eine Frau mit den Kindern zu Hause bleibt oder arbeiten geht. Kinder wurden bei uns schon im Babyalter in den Kindergarten gegeben und die Eltern gingen arbeiten. Noch heute spielt die Frau in den meisten russischen Familien die Hauptrolle.

Wie groß ist Ihre russische Familie?

Außer in Russland und in der Ukraine, wo wir viele Verwandte haben, gibt es noch Familienmitglieder in Israel, Amerika und in Australien. Ein entfernter Verwandter aus Israel hat mich angeschrieben, er betreibt Ahnenforschung, und hat sehr viele neue Verwandte entdeckt. Ich weiß gar nicht mehr, wohin damit. Plötzlich sind wir sogar mit einem bedeutenden israelischen Schriftsteller verwandt.

Wie wirkt sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auf Ihre Familie aus?

Mir gefällt das Wort "Konflikt" in diesem Zusammenhang nicht. Konflikt bedeutet, wenn beide Seiten einander etwas antun. Aber in diesem Fall hat Russland sein Nachbarland überfallen, es war eine Annexion. Ist das ein Konflikt? Der Ukraine wurde ein Teil ihres Territoriums geraubt mit der Absicht, ihr noch größere Teile wegzunehmen. Das hat nicht geklappt. Jetzt steht der Dieb da mit der Hand in der fremden Tasche und alle Welt sagt ihm, er solle die Hand da wieder rausnehmen. Aber Russland sagt, vor 200 Jahren gehörte diese Tasche seinem Großvater. Das ist eine sehr peinliche Situation für Russland.

Wie gehen Sie persönlich damit um?

Ich schäme mich für diese Geschichte, weil ich 20 Jahre lang in Deutschland versucht habe darzulegen, was für wunderbare Menschen die Russen sind, die in großen Schritten auf ein europäisches Zusammenleben zusteuerten.

Interview: Olaf Neumann

Wladimir Kaminer: "Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger. Ein Unruhezustand in 33 Geschichten." Manhattan Verlag 2016 - 17,99 Euro. Wladimir Kaminer liest heute Abend, 19.30 Uhr, in der Stadthalle Arnstadt