Kristina Stella bringt ihren Urlaub oft in Archiven zu. Eine allzu große Abwechslung zu ihrem Beruf ist das nicht, seit 26 Jahren arbeitet sie als Bibliothekarin an der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Aber nur in den unendlichen Regalmetern der Archive, sei es im Literaturzentrum Neubrandenburg, sei es im Stadtarchiv Mühlhausen, findet sie die Teile, die sie für ihr großes Puzzle benötigt. Das Bild, das sie seit drei Jahren ausdauernd zusammensetzt, ist das des Schriftstellers Siegfried Pitschmann (1930-2002). Sie verschafft ihm und seinem Werk nachträglich eine Aufmerksamkeit, die dem Autor zu Lebzeiten nicht vergönnt war.

Wohl auch nicht in Suhl, der letzten seiner zahlreichen Lebensstationen, wo Siegfried Pitschmann 1990 eine bescheidene Zweizimmerwohnung in der Rimbachstraße bezog. Kristina Stella ist wieder dort gewesen, einmal die Straße entlang gefahren, bevor sie ihr Weg am Freitag in die Volkshochschule im Heinrichser Rathaus führte. Der Verein Provinzkultur hatte sie zu einem "Freitagssalon" eingeladen, um ihre jüngste literarische Ausgrabung vorzustellen - Siegfried Pitschmanns "Erzählungen aus Schwarze Pumpe".

Von den Erlebnissen auf der Großbaustelle des Kombinats in der Lausitz Ende der Fünfzigerjahre handelt auch der einzige Roman des Autors, "Die Erziehung eines Helden". In der DDR durfte das selbst Erlebte des arbeitenden Schriftstellers nicht erscheinen, weil der Kulturpolitik in jener hoffnungsfrohen Jugend der Republik der Alltag in Beton und Dreck zu wenig erbaulich klang. Es ist eine Niederlage, an der Siegfried Pitschmann fast zerbricht, ein Selbstmordversuch konnte knapp von seiner damaligen Frau Brigitte Reimann verhindert werden. Kristina Stella entdeckte das vergessene Manuskript im Archiv und veröffentlichte es 2015 posthum mit Nachwort.

Im Zuge der Recherchen stieß sie auch auf die Erzählungen, die anders als der Roman bereits in den Sechzigerjahren das Lesepublikum erreichten - einzeln abgedruckt in Zeitungen, einige auch gemeinsam in einem Band. Für Kristina Stella stellen sich mehrere Fragen: Warum hat der Schriftsteller das Thema nochmals aufgegriffen, warum ist er zurückgekehrt in die Lausitz? Bei welchem seiner beiden Aufenthalte in "Schwarze Pumpe" fand er den Stoff für die neuerliche Annäherung? Handelt es sich um eigenständige Erzählungen oder um Versatzstücke aus dem Roman? Hat das Verbot seines Buchs seinen Stil verändert? Warum entstanden die ersten fünf Erzählungen in rascher Folge, nur "Die Ansprache" erst Jahre später 1966?

Einige der Antworten, die sie gefunden hat, stellte Kristina Stella am Freitag bei der Buchlesung mit ihrem Mann Klaus Lepsky vor. Die Zeit war aber zu knapp bemessen, um an diesem Abend den Erzählungen von Elvis und den anderen bescheidenen Helden und auch ihrem Verfasser Raum zu geben. So ist die Lektüre des Bandes zum einen jenen zu empfehlen, die einem sensiblen Beobachter zuhören möchten, dessen Worte bisher zu leise klangen im Literaturbetrieb. Zum anderen jenen, die Kristina Stella beim Zusammensetzen des Puzzles begleiten mögen.

Derzeit fügt sie die Teile ein, die zu Siegfried Pitschmanns frühem Schaffen in den späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren in Mühlhausen gehören. Eine Veröffentlichung ist für August 2017 geplant.

Siegfried Pitschmann: "Erzählu ngen aus Schwarze Pumpe", herausgegeben von Kristina Stella. Aisthesis Verlag Bielefeld 2016, 183 Seiten, Klappenbroschur, 9,95 Euro.

Schwarze Kirschen

Er verschlingt einen besonders guten Baum im Vorbeifahren mit gierigen Blicken. Wie sich die Zweige biegen unter ihrer Last. Schwarz-golden schimmern die großen Kirschen in der Sonne. "Natürlich, der Pächter, der läßt sich's wohl sein", denkt er weiter, "der hat es bestimmt nicht nötig, so wie unsereiner viele Meilen mit dem Fahrrad zu fahren nach ein paar alten Kartoffeln. Der verschiebt einfach ein paar Zentner von seinen Kirschen - das fällt doch nicht auf - an die Bauern und hat dafür alles, was er will, zu essen. Und nicht bloß Kartoffeln, das glaube ich bestimmt. Und fragt man so einen Halunken nach einem Pfund, gleich hört man lange Geschichten von Abliefern, Stehlen und so fort. (...)

Der Auszug stammt aus der in diesem Jahr erstmals in der Zeitschrift Palmbaum der Thüringischen literarhistorischen Gesellschaft (Heft 1/2016) mit einem Nachwort von Kristina Stella veröffentlichten Erzählung "Schwarze Kirschen". Sie befindet sich im Nachlass von Siegfried Pitschmann, der als Dauerleihgabe im Literaturzentrum Neubrandenburg verwahrt wird. Die Erzählung gehört zu Pitschmanns frühesten Prosatexten, sie entstand um 1946 und ist stark autobiografisch geprägt. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Siegfried Pitschmanns Erben.