Wer diesen Dichter verstehen will, der muss eine andere Revolution als die des Jahres 1789 erinnern, während der "Der Auftrag" spielt. Auf dem Höhepunkt dieser Revolution, es war der 4. November 1989, da sprachen viele Intellektuelle auf dem Berliner Alexanderplatz darüber, wie sie sich die Zukunft dachten. Heiner Müller, einer der bedeutendsten damals lebenden Dichter deutscher Sprache hatte nichts zum Sagen. Da drückten ihn ein paar junge Leute ein Manuskript in die Hand, das handelte von freien Gewerkschaften, und der bedeutende Dichter trug es vor: Er hatte keine Entwürfe und Visionen für eine gestaltende Vernunft, er hatte nur Bilder und Sprache für die Brutalität des Chaos.

Als der Zeitgeist begann, die Position des beliebtesten DDR-Theater-Dichters von Peter Hacks auf Heiner Müller zu übertragen, war das, wie wir heute wissen, ein Zeichen der Krise. Denn wie Peter Hacks den Sieg der Vernunft feiert, also die Hoffnung, so besingt Heiner Müller das Chaos, also die Hoffnungslosigkeit. Und mit der bizarren Ost-West-Welt starb auch das Material des Dichters.

Mit Heiner saufen

Heiner Müller ist eine merkwürdige Erscheinung, die weit über die, ohnehin schon beträchtliche, Bedeutung des Dichters hinausgeht. Es gibt eine, mitunter skurril wirkende Müller-Gemeinde, die jedes reale oder virtuelle Erscheinen des Meisters zur Epiphanie geraten lässt. Es gibt Hunderte Menschen, die mit einem kindlichen Leuchten in den Augen berichten, wie sie einst mit Heiner soffen. Denn es ist fast immer Heiner. Es wird kaum ein Dutzend Menschen geben, die den nicht minder toten Dichter Hacks Peter zu nennen sich erlauben: Müller machte sich gemein mit seiner Gemeinde, er hatte etwas unbekümmert Proletarisches, er schenkte jedem, der ihn trunken darum bat, die Ich-und-Heiner-Lizenz. Was bedeutet, dass ihm das alles ziemlich gleichgültig war. Welt war Material, er nahm das nicht so recht ernst sofern es nicht um seine Dichtung ging. Man mag fragen, wie ernst es zu nehmen sei, wenn einer mit Whisky und Zigarren drapiert seinen Weltekel formuliert, so schön, so betörend wie nur einer.

Für Heiner Müller waren der schmatzende Sumpf, der dampfende Gottesacker die saftige Wiese, die seinen Sämereien fruchtbar war. Hier trieb er, rot wie Blut, die Blumen des Bösen aus vor Verwesung lustvoll blubbernden Kadavern, hier vergossen seine Figuren Blut und Sperma in endlosem Strom. Es war eben dieses mitunter zynisch scheinende Wühlen in der Historie, dieses Beschreiben von Geschichte als die stetige Wiederkehr des Gleichen, blutbesudelt und unverbessert, das ihn in der DDR seine besondere Bedeutung zuwachsen ließ. "Optimismus" hat er einmal gesagt, "ist Mangel an Information". Allerdings war da das Sterben mitunter zu lustbetont, das Schinden zu geil und der Schmerz zu schön, um antike Härte und womöglich literarische Dauer zu beanspruchen. Doch, man soll das nicht vergessen, verhält sich das anders in Arbeiten wie "Quartett", "Philoktet", "Hamletmaschine" oder auch dem "Auftrag". Das sind Texte, die wohl ein Jahrhundert überleben könnten, weil sie tief ins Innere des Menschen reichen.

Heiner Müllers Werk scheint seltsam unverbunden mit seinem Leben, das, nach den frühen Querelen in der frühen DDR - "Die Umsiedlerin" bewirkte einen kultur-politischen Skandal - so merkwürdig banal anmutet. Müller kultivierte eine Art von Gleichmut gegenüber der Wirklichkeit, sofern ihn diese nicht am Schreiben hinderte, ihn vielmehr durch ihre bizarre Verfasstheit das Material lieferte. "Ich schreibe mehr, als ich weiß." hat er einmal gesagt und das ist die reine Wahrheit. Es ist das Geheimnis, das jeden scheinbaren Widerspruch zwischen einem Leben und einem Werk auflöst.

Eine lakonische Sprache

Christa Wolf, der Gegenentwurf eines Lebens, ist nicht bedeutend, weil sie bedeutend oder moralisch gelebt hat, das mag sie sympathisch machen, bedeutend ist, wer bedeutend schreibt. Es ist ohne Bedeutung für Müllers Bedeutung, ob man seine Haltung zur Welt freundlich oder zynisch nennt; es ist auch gleichgültig, ob Müller diesen Weltekel verbreitet, weil er das Empfinden dafür oder einfach nur, weil er die Sprache dafür hat. Als ob, sagt Martin Buber, eine echte Botschaft, ein echter Gesang, ein von seinem Wie ohne Schaden ablösbares Was enthielte. Wer wissen will, was Müller denkt, muss Müller lesen, denn diese lakonisch in Höhen auffliegende Sprache ist seine Gabe und in ihr sein Denken.

In einigen Jahrzehnten wird man nicht primär fragen, welchen Umgang er mit Menschen und Zigarren pflegte, obschon es Experten für beides geben wird. Das Publikum wird fragen, ob da eine Sprache ist, die als Medium eines Weltempfindens ein Jahrhundert übersprungen hat. Und für einige Fälle wird diese Frage wohl bejaht werden.

Der Rest ist - Moral.