Zu Weihnachten gibt es so manche Überraschung. Auch auf dem Buchmarkt. Erst vorgestern wurden die Rückenschilder und Etiketten auf das geschmackvolle Bändchen "Das große Fressen" geleimt, das in einer nummerierten Auflage von 750 Exemplaren erscheint. Der Jenaer Verleger Jens-Fietje Dwars, selbst Schriftsteller, dazu Redakteur beim Thüringer Literatur-Journal Palmbaum, ist voll des Lobs: "Es ist eins der schönsten, im Augenblick in Thüringen produzierten Bücher."

Sein asketischer Pappband glänzt in Schwarz, moosgrüne Vorsatzblätter blitzen hervor, acht skurrile Pinselzeichnungen des Weimarer Maler und Grafikers Horst Peter Meyer entwickeln in ihrer eigenständigen Bildsprache ein Co-Referat. Die seit 1967 in Dietzhausen wohnenden Autoren Ursula und Siegfried Schütt finden sich damit zum ersten Mal in ihrem Leben zwischen zwei Buchdeckeln vereint.

Im Leben sind sie ein Ehepaar, doch ihr schriftstellerisches Werk divergiert stark. Gewöhnlich werden sie nicht in einem Atemzug genannt. Dass sie sich hier zu einem Band aus 42 grimmigen Fabeln - aus ihrer Feder - und zwölf fabelhaften Märchen - aus seiner Feder - zusammengetan haben, ist dem Anstoß von Dwars zu verdanken.

Bis zu fünf Stunden am PC

Der Inhalt des hundertseitigen Buches ist ein gepfeffertes Schwergewicht an Hintersinn, dem Alltag unserer Gesellschaft entsprungen. "Die Fabeln haben mir während des Schreibens so viel Spaß gemacht, dass ich wahrscheinlich damit nicht aufhören werde", sagt Ursula Schütt rückblickend. "Gerade die aktuellen Sachen packen sich eben so in eine Fabel rein, dass das Publikum auch mal darüber lachen kann - sonst vergeht einem ja manchmal das Lachen."

Ihre Stoffe nimmt sie aus Fernsehen, Zeitung und aus dem, was sie unterwegs von den Leuten erfährt. "Ihre Meinung zu den Dingen hilft ungemein, das dann zuzuspitzen und als Fabel unterzubringen", fährt die gebürtige Belrietherin fort, die den unverstellten Blick pflegt.

Kostproben gab's bei der Buchpremiere im Suhler Buchhaus am Montagabend. Ein stattlicher Kreis an Interessierten ließ sich anhand der 2600 Jahre alten Äsopischen Fabelkultur ins Parallelreich der Tiere einführen. Zwischen Hase, Elster, Wolf und Grünspecht herrschen Habgier, List, Eitelkeit und Sehnsucht. Die todgesagte Gattung Fabel reduziert unser komplexes, von Politik überformtes Dasein auf überschaubare Geschichten. Vermittelt, ohne zu moralisieren.

Bei Ursula Schütt geraten Vernissagen zum Schaulaufen ihrer Besucher, Wahlen zur Traumfabrik, die Deutsch-Deutsche Vereinigung zu einem Hort an Unzufriedenheit und Schuldzuweisung, die bissig endet: "Wenn die Bewegung der Zeit dich erschüttert, halte dich an deinem Vorurteil fest."

Die ehemalige Oberstufenlehrerin für Deutsch und Kunsterziehung, die mit 66 Jahren ihr erstes Buch veröffentlichte, arbeitet diszipliniert, am liebsten täglich: "Selbst wenn ich mal nichts zustande bringe, bliebt man doch in der Übung." Je nach vorhandener Zeit sitzt sie ein bis fünf Stunden am PC. Neben Fabeln entsteht Prosa, in der Regel über soziale Verwerfungen. "Das gefällt nicht allen. Manchmal ist es herb. Viele Leute lesen bloß, um sich zu unterhalten. Und meine Erzählungen sind nicht harmlos."

Ihre Schreibzeit ist der späte Nachmittag, zum Abend hin. Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann. Siegfried Schütt schreibt morgens ab sechs Uhr: "Am Nachmittag wird bei mir nichts mehr." Kaffee mit Milch und Zucker muss dabei sein. "Ich brauche 1,5 Liter auf 100 Kilometer in etwa." Er beschreibt seine Vorgehensweise. "Ich benutze im Prinzip die alte Märchenform, und reichere sie mit Gegenwartsdingen an."

Schiffsjunge und Matrose

Bei ihm werden Hänsel und Gretel zu ausgesetzten, gefühlsamputierten Großstadtkids, die mit ihrem Lärm Eltern und Nachbarn nervten. Die Hexe im Waldhäuschen ist eine uralte Frau, die keiner mehr haben wollte. "Denn wir hatten das ja tatsächlich schon erlebt, dass Eltern ihre Kinder ausgesetzt haben. Und ich finde, auch alte Leute sind ausgegrenzt, häufig jedenfalls", sagt Schütt, der zu Hause unter zwei benachbarten Dächern den Großfamilienverband von Urgroßmutter bis zu den Urenkeln pflegt.

Bei der Lesung kämpft er mit Heiserkeit. "Ich hab' das eigentlich immer. Meine Frau ist Lehrerin, die kann reden, die quatscht ununterbrochen, ich kann das nicht", lacht er mit wegbrechender Stimme. Er stammt aus Lübbenau im Spreewald und begann sein Berufsleben als Schiffsjunge und Matrose auf einem Fangtrawler vor Norwegen. "Vielleicht kommt da meine Fantasie her, von den Wellen, von den Schiffen." Gefallen hat es ihm nicht. "Fürchterliche Arbeit, die Hochseefischerei. Das Schlimmste war, dass man so wenig Schlaf bekam. Alle drei Stunden kam ein Netz, in der Zeit musste man das andere aufgearbeitet haben. Nee, nee, das ist keen Vergnügen."

Dann hat er als Dekorateur gearbeitet. "Ich zeichne und male wie die meisten Schriftsteller". 1959 ist er in den Westen ausgerissen, war Baggerführer in Herford. Nach einem Jahr kam er zurück, wurde Journalist in der Lausitz. In Suhl hat er seine Frau kennen gelernt, viele Jahre als Korrektor und Redakteur gearbeitet. Von ihm liegen Essays, Reportagen, Erzählungen vor. Darunter "Die Simson-Legende" oder "Befreit, verfolgt und totgeschwiegen." Stoffe, wie jetzt die Märchen, aus bewegten Leben.

"Das große Fressen" von Ursula & Siegfried Schütt erschien beim Quartus-Verlag, Band 6 der Edition Ornament.