Matthias Biskupek wird siebzig Jahre alt und verweigert die Annahme von Geschenken. Das wird niemand wirklich überraschen. Der Satiriker hat sich schon vor Jahren als Konsummuffel geoutet. Bei allem Respekt vor dem Alter sei die Frage gestattet: in welche Lage geraten wir, wenn das Schule macht? Welche Aufgabe bleibt der Rentnerschaft, wenn sie nicht mal mehr den Binnenhandel anzukurbeln gewillt ist? Lieber Freund und Kupferstecher, dachte ich, so billig kommst du aus dieser runden Sache nicht heraus. Ich will dir heuer was schenken, das sich gewaschen hat. Das war leichter gesagt, als getan.

Auf der Suche nach einem extravaganten und erschwinglichen Präsent, das den Jubilar, ob seiner konjunkturfeindlichen Ansage, erblassen lassen würde, durchforstete ich in konzentrischen Kreisen den Landkreis - das Wort der Kanzlerin ernst nehmend, indem ich meinen Wohnort nicht mehr verließ. Welchen Saftladen ich auch betrat, alle Angebote schienen mir zu profan, zu klein oder herabgesetzt. Ich erreichte den Aldi-Markt in Rudolstadt-Schwarza, im hiesigen volkseigenen Chemiefaserkombinat hatte Biskupek einst als Systemanalytiker sein Berufsleben begonnen. Aus dem Discounter taumelnd, nach Bad Blankenburg gewandt, fiel mir am linken Straßenrand eine architektonische Rarität ins Auge, die ich zuvor noch nie wahrgenommen hatte: ein Kiosk, verwaist, blassgelb, mit fünf mannshohen Glasscheiben, hinter denen leere Regale Staub fingen. Eine weiße Schrift auf rotem Grund verkündete an der östlichen Dachkante die Parole LESELAND.

Augenblicklich wusste ich, dass ich mein Geschenk gefunden hatte. Dieses Objekt würde und konnte der Raritätensammler nicht ablehnen. Ich zog mein Smartphone und machte schnurstracks ein paar astreine Fotos. Eine gutgelaunte Bande minderjähriger Kleinkrimineller lief mir durch den Fokus und filmte mich, während ich den Kiosk fotografierte. Ich nehme an, die Bilder stehen inzwischen im Netz und erhielten als virales Ereignis zehntausende Klicks. Leseland, was soll das heißen? Verheißung oder Warnung, Paradies oder Hölle? Auf welchem Kontinent liegt es? Ist es mit Menschen oder Aliens bevölkert? Aus welcher Vergangenheit, respektive Diktatur, stammt die Drohgebärde?

Hätten mich die Fünftklässler gefragt, würde ich ihnen geantwortet haben: der Schriftsteller Matthias Biskupek, ein Ortsansässiger, eine Lokalgröße von überregionalem Format, ist ein Kind dieses imaginierten Landes, das so viel Wert auf das Lesen legte und in dem das Lesen so wertvoll war, weil es als Ersatz für Leben herhalten musste. Für ihn war Literatur einst so wichtig wie für euch ein Big Mac bei McDonalds. Aber die Kids lachten nur und surften weiter.

Ich aber sah Biskupek, den jugendlichen Dichter und Ingenieur (der Seele), 1979, 1982, 1986, mit Bart und Nickelbrille, vor dem Kiosk des Postzeitungsvertriebs stehen und die ausgestellten Drucksachen studieren, Frösi und Trommel, NBI und Für Dich, die Armeerundschau und das Sportecho, sowie außergewöhnliche Pamphlete wie die NDL (Neue Deutsche Literatur), Die Weltbühne, Sinn & Form oder gar die Lyrik-Reihe Poesiealbum. Nach dem Eulenspiegel musste der Maschinenbauer, Inspizient, Dramaturg, Kabarettist nicht fragen, den gab es nur bei guten Beziehungen, als Bückware, unter dem Ladentisch, aber dann war Biskupek selbst Hausautor beim ersten und einzigen Satireblatt des Arbeiter-und Bauernstaats und erhielt sogar die monatliche Ausgabe der Funzel auf dem Postweg. Das war fast so eindrucksvoll wie ein Abonnement des Magazins. Ja, man las sehr viel im Leseland, war aber auch froh, wenn man sich ab und zu ein Bildchen oben ohne anschauen konnte.

In einem seiner vielen Bücher widmete sich der Jubilar solch verschütteten Relikten der Vorzeit: "Was heißt eigentlich DDR?" Darin unternahm Biskupek den Versuch der Aufklärung, indem er den westsozialisierten Bürgern Ausdrucksweisen der ostdeutschen Eingeborenen zu übersetzen suchte. Dieser enthnologische Vorstoß dürfte auch für die Nachgeborenen einen gewissen Nutzen bevorraten. In Biskupeks kleinem Lexikon DDR-sprachlicher Obskuritäten erfuhr man von Erntekapitänen, ABVs, Reisekadern und Klassenfeinden. Den Begriff Leseland hielt der Autor für die zweite Folge in Reserve. Es wäre zu wünschen, er würde eine Sonderschicht einlegen, zum Bestarbeiter mutieren und die Edition fortführen. Vielleicht könnte ihm der Kiosk als Schreibstube, Refugium, Inspirationsquelle nützen?

Ich suchte an den Schaufenstern nach einem Hinweis zu Verkauf oder Vermietung. Umsonst, kein Immobilienhai machte eine Offerte. Kein Verweis, keine Kontaktdaten. Hatte die Treuhandbehörde beim Ausverkauf ostdeutscher Immobilienfilets etwa den Zeitungskiosk von Schwarza vergessen? Skandal. Stand ich vor einem Objekt, gestraft mit dem Stigma ungeklärter Eigentumsverhältnisse? Wäre die Kiste nicht als Rostbratwurststand prädestiniert? Überhaupt, was für ein wunderbares Wort: Kiosk. Biskupek würde es lieben, denn zu seinen absoluten Stärken als Schreiber und Leser gehört sein sprachlicher Geschmack. Er schmeckt einer Sprache nach, hat ein ausgesprochen sinnliches Verhältnis zu Klang und Sinn und Syntax. Auch wenn er statt zu Romanen und Erzählungen, eher zur Kurzgeschichte und zu Prosa-Miniaturen neigte, stets sind seine Texte ziseliert und bis in die letzte Silbe ausgefeilt. Was so lässig angefügt und wie hingeworfen anmutet, ist durchgeplant und exakt gebaut.

Als ich seine Quasi-Autobiographie "Der Rentnerlehrling" las, ahnte ich, woher diese linguistische Empfindsamkeit herrühren könnte. Der Autor Biskupek ist in einem seltsamen Spannungsfeld von Schlesisch und Sächsisch aufgewachsen, der eine Teil vom Vater, der zweite von der Mutter, dann ins Thüringische exiliert, während er mit einem Ohr in den Berliner Jargon hineinlauschte. Ihn dürfte interessieren (wenn er es nicht schon weiß), dass das Wort Kiosk vom Französischen kiosque oder dem Italienischen chiosco stammt, aber die eigentlichen Wurzeln im Osmanischen köšk oder Persischen Küšk liegen. Im Orient bezeichnete man damit einen Gartenpavillion. Wie viel armseliger klingt das deutsche Äquivalent Bude. Ein Kiosk ist eine wunderbare Einrichtung. Ein Treffpunkt im Freien. Ein luftiger Ort des Beschauens, des Lesens, des Gesprächs, bei Tee und Kaffee, Likör und Brause.

Vielleicht, lieber Matthias, sollten wir uns dort verabreden, an deinem Kiosk. Man wird uns nicht verjagen, wenn wir da, im ersten Sommer nach Corona, wie die letzten Tippelbrüder ein Bierchen zischen und uns an die Zeit der Poesie und unsere poetischen Anfänge erinnern. Die Jugend wird uns als abschreckende Beispiele von Weltfremdheit in den Cyberspace stellen. So what, werden wir sagen. Das klingt cool, modern und super entspannt. Wir wissen ja, wer wir sind: Dinosaurier aus dem Leseland. Eine bedrohte Art, aber noch immer präsent. Happy birthday, alter Knabe, die wirklich wichtigen Dinge, die man seinen Freunden wünscht, kann man leider nur aussprechen, nicht verschenken. Also, Genesung, Kraft und Zuversicht, mein Lieber, ich komme zu deiner Feier, wie gewünscht, mit leeren Händen, aber der Kiosk wartet. Es gibt für so was eh keine Käufer.

Der Schriftsteller, Regisseur und Schauspieler Steffen Mensching ist Intendant des Landestheaters Rudolstadt