Der Mann und die Frau, sie küssen sich, wenn sie es das erste Mal tun, im Saal, mitten unter den Leuten. Als wüssten sie, es sei dieser Ort, diese Familie da oben, nicht der Raum, in dem ihr Glück gedeiht. Der Schauspieler, wenn er später flüchtet, wenn er geht zum letzten Mal, tut es durch den Saal, mitten durch die Leute. Als ahnte er, es sei dieser Ort, diese Bühne da oben, nicht der Ort, an dem ihr aller Glück gedieh an diesem Abend.

Der Österreicher Ewald Palmetshofer hat Gerhart Hauptmann nicht umgeschrieben, er hat "Vor Sonnenaufgang" neu geschrieben, inspiriert von dem Original und sehr weit entfernt. Was wir immer noch sehen, ist eine zerrüttete Familie und einen in ihr Fremden, der einen alten Freund besucht. Was wir immer noch haben, ist der Umstand, dass der, der heilen will, selber krankt.

Der irgendwie linke Journalist Alfred Roth, der irgendwie rechte Unternehmer Thomas Hoffmann, sie stehen für den Riss in dieser Gesellschaft. Palmetshofer konfrontiert sie einander in seiner gleichsam dem Alltag abgezogenen Kunstsprache. Allerdings, das ist weniger Dialog, das sind Statements, Textblöcke. Das, mag man sagen, spiegelt die weitgehende Dialogverweigerung unserer Gesellschaft, das macht aber auch, muss man sagen, den beiden Darstellern ihren Beruf nicht leicht.

Die übrigen könnten es leichter haben, der Autor hat ihnen, soweit vorhanden, das schlesische Idiom gestrichen und den Alkoholismus, er hat ihnen über weite Strecken eine Chance zum Boulevard gegeben, ehe es ernst wird. Ernst, weil in dieser Familie nichts mehr geht. Martha, die hier außer der Schwangerschaft Gesicht und Stimme hat, leidet an Depressionen, der alte Krause leidet an seiner Alten, die an ihm, alle leider aneinander sowie am Leben. Und keiner weiß warum.

Palmetshofer hat weniger Charaktere geschaffen als gleichsam allgemeine Vorstellungen davon, ein schneller Schwenk über diese Gesellschaft ohne Tiefenschärfe. Das Stück wird recht oft gespielt, da vermengt sich die Interesse stiftende Referenz mit dem Bedürfnis, sich zum Hier und Jetzt zu verhalten. Und so verhält es sich wohl auch in Rudolstadt.

Baumelnde Senfflasche

Aber wie verhält es sich mit diesem Theaterabend? Es verhält sich so, dass der Rezensent nicht recht weiß, wie er sich verhalten soll. Denn er sah ein engagiertes Ensemble, das in der Inszenierung von Jens Schmidl Schwerarbeit leistet und sich unter den Text stemmt, einen Text, den in seiner Intention nur begrüßen kann, wer die derzeitigen Zustände in diesem Land nicht sonderlich begrüßenswert findet. Aber er sah auch: Wenig, dem er zuschaute und zuhörte mit einem Interesse, das dem Theater galt.

Stefan Heyne hat eine Bühne gebaut, die ist gleichsam so abstrakt und kalt wie der Text: Links ein endloser Stapel Holz, ein Kamin gehört heute zum gern genommenen Design, rechts ein halber Rundhorizont aus Lamellen, die Auf- und Abtritte ermöglichen. In der Mitte ein Rost, wir sind im Bratwurstland. Und aus dem Himmel baumelt eine Senfflasche. Sie ist das Lustigste an diesem Abend. Und das ist das Problem.

Denn Jens Schmidl verweigert seinen Schauspielern, da wo es möglich wäre, die Leichtigkeit, die Lässigkeit. Sie müssen, sozusagen, gleich am Ende anfangen, gleich ganz oben, gleich ganz kaputt. Das beschwert den Abend, das macht seine gefühlte Länge.

Matthias Winde, der alte Loth, tritt auf mit heruntergelassener Hose, er kommt, so heißt es, von seinem Morgenschiss, und das bleibt auch so. Da ist die Figur, wie der Theaterwissenschaftler sagt, im Arsch. Der verbiestert-frustrierte Alte. Einmal, wenn er erklärt, warum er die Kneipe liebt, da hören sie ihm wenigstens zu, da zeigt Winde, was er kann, das ist der intensivste Moment des Abends.

Seine Frau, Manuela Stüßer, ist wie seine Frau, einmal tritt sie ihn in den Hintern, so sind sie hier. Martha, die schwangere Loth-Tochter und Hoffmann-Frau, Laura Bettinger, nervt mit ihrer "dunklen Mitgift", der Depression, alle - und das wirkt, wie bei allen, forciert. Auch sie ohne Chance, mit ihrer Figur spielerisch-ironisch umzugehen. Wie Winde hat auch sie ihre besseren Momente, wenn sie leise sein darf, wie für ihren Vater scheint auch ihr die Schwester Helene der letzte Lebensgrund. Und die, Marie-Luise Stahl, ist die "Normale" hier, die Bodenständige, die eigentlich Fremde, die etwas Wärme verströmt, die Halt geben könnte, wenn man sie ließe.

Respekt statt Interesse

Aber man lässt sie nicht. Nicht dieser Alfred Loth, Johannes Geißer, der so jungenhaft auftritt, so unbedarft, so unsicher, die Arme an der Seite hängend. Der nicht zeigen kann, dass und warum er die Frau verrät. In der Konfrontation mit seinem nun rechten Jugendfreund Thomas, Benjamin Petschke, wird er stärker, bestimmter, aber doch, auf gleichsam allgemeine Weise, so unsicher wie die Frage, was denn und wer heute "links" sei.

Benjamin Petschke ist da, mit weit ausgreifender, sich souverän gebender Gestik, sicherer, bestimmter, die unerschütterliche Selbstgewissheit derer, die es ganz gewiss wissen, wie das "System" uns bescheißt. Und weil er ein Saukerl ist, muss er die Schwägerin vergewaltigen. Die bei-den Schauspieler behaupten sich und ihre Textblöcke achtbar in der Konfrontation, aber was sie bei dem Beobachter stiften, ist mehr Respekt für ihre Arbeit als Interesse an ihrer Sache.

Das Stück, denke ich, ist gesellschaftstheoretisch interessanter, als es theaterpraktisch gut ist. Und dieser Abend wenigstens hat das nicht widerlegt.

Weitere Aufführungen am 29. November, 19.30 Uhr, und am 17. Dezember, 15 Uhr (mit Publikumsgespräch) im Theater im Stadthaus Rudolstadt.