Elsa Lasker-Schüler - irgendwann ist dieser Name wohl jedem schon begegnet. Für die meisten aber blieb er wohl eine flüchtige Bekanntschaft. Ein Name - nicht mehr. Gefunden in einer Gedichte-Sammlung. Nie was gelesen, nie was gehört von ihr. "Gott ist kein Spießer", behauptet sie. Wer ist diese Frau?

Kleine Metallstücke rasseln auf den Tisch. Eine schlanke Hand lässt sie fallen. Ein helles Klingeln und Klappern. Das Geräusch springt von der Bühne wie die Funken von einer Wunderkerze. Wird aufgezeichnet. Und kehrt wieder. Leise. Verzerrt. Ein Widerhall. Elsa-Lasker-Schüler gilt als "herausragende Vertreterin der avantgardistischen Moderne und des Expressionismus in der Literatur", weiß das Lexikon. "Nicht das Gedicht ist wichtig. . .", liest die Frau, der die schlanke Hand gehört, in die Stille. "Nicht das Gedicht ist wichtig, sondern der Zustand des Dichters, wenn er es schreibt. Ein Wort muss das andere küssen", notierte einst die Dichterin. "Ein Wort muss das andere küssen" - wenn das nur so einfach wäre! Wirklich noch nie etwas gelesen von Else Lasker-Schüler?

Tiefe Berührung

Würde man das Publikum fragen, so wie es sitzt und lauscht im Meininger Theater - hier und da würde sich eine Hand heben. All die anderen wären verwundert: Warum eigentlich nicht? Als "größte Dichterin, die dieses Land je hatte", apostrophierte ein nicht ganz unvoreingenommener Gottfried Benn Else Lasker-Schüler. Und sie war, so viel scheint klar nach diesem Vormittag, mindestens auch die eigenwilligste. Das suggeriert die Berliner Schauspielerin Corinna Harfouch. Die Dichterin ist ihr Programm. Eine Mischung aus Poesie und Biografie, die eine leise Annäherung versucht - und am Ende eine tiefe Berührung hinterlässt. Nicht nur, weil sich die 1869 in Elberfeld geborene und 1945 in Jerusalem gestorbene Lasker-Schüler allen gängigen Klischees so sehr entzieht. Sondern auch, weil die 1954 in Suhl geborene Corinna Harfouch das Gedicht als diejenige literarische Äußerung sieht, die am tiefsten in menschlichen Seelen zu schürfen vermag. Jeder Mensch wäre wohl ein Poet, hätte er die Gabe, all das wirre Zeug in seinem Kopf und seiner Umwelt in Worte zu fassen, sagt die Schauspielerin - später, im Theatermuseum, beim Gespräch über Theater, Film und das Leben.

Corinna Harfouch zündet Kerzen an. Auf dem Tisch hat sie Kinderkram zusammengetragen. Ein kleines Gummi-Krokodil gehört dazu, ein Aufzieh-Spielzeug aus Blech, eine Fratze aus Papier, eine kleine Puppe mit rosa Kleid, blondem Haar und roter Mütze. Mit ihr wird sie später spielen. Sie wird sie umziehen und in ein Gespräch verwickeln. "Aua, aua" wird die Puppe jammern - so wie störrische kleine Mädchen es eben tun, wenn man ihnen ein anderes Kleid anziehen will. Da ziepen die Haare, da schmerzen die Arme. Und doch werden sie am Ende wieder Freunde sein, Mutter und Kind. Jeanette Schüler und Else Lasker-Schüler? Hannes Gwisdek, Corinna Harfouchs Sohn, wird die Geräusche aufnehmen mit seinem Klang-Instrument. Sie verändern, ergänzen und wieder abspielen. So entsteht, während die Schauspielerin liest und erzählt, eine ganz eigentümliche, eine ganz faszinierende Klangkulisse.

Unendlicher Reichtum

All der Kinderkram liegt nicht ohne Grund auf dem Tisch im Theater. Er steht für das Interieur, mit dem sich Else Lasker-Schüler in ihren Wohnungen umgeben hat - in Deutschland, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in der Schweiz, schließlich in Palästina. "Enge Kammern" habe sie stets bewohnt, sagt Corinna Harfouch. "Vollgestopft mit Spielzeug und Krimskrams." Sie liest einige Gedichte, sie liest in Tagebüchern. Sie erzählt biografische Notizen. Ein exzentrisches Leben blitzt hinter all dem auf. Aber auch ein trauriges. Fast scheint es, als sei die Kraft, mit der Else Lasker-Schüler die Worte aufzuladen vermochte, alleine der Tragik ihres Lebens entsprungen: Ohne Rast, ohne Heimat, ohne Liebe. Immer wieder sind es Verlust und Enttäuschung, die sich durch ihr Werk ziehen. Ihr Reichtum an Empfindungen hat der Dichterin berührende Texte, wenn man so will eine "Poesie des Lebens" ermöglicht. Ein Reichtum, vor der es Corinna Harfouch auch ein wenig graut. "Manche Leute leiden darunter, alles zu spüren", sagt sie später im Theatermuseum. Else Lasker-Schüler gehörte wohl dazu.

Zurückhaltung

Sie passen irgendwie zusammen: Die Berliner Schauspielerin mit thüringisch-sächsischer Heimat und Else Lasker-Schüler. Leidenschaftlich, spröde, eigenwillig, unnahbar, verbissen - so erscheint die Dichterin. Und so lässt sich - aus der Ferne - auch Corinna Harfouch zeichnen. Nach dem Abitur wurde sie Krankenschwester. Später wollte sie Textilingenieurin werden. Heute ist sie auf dem Theater wie im Film gefragte Schauspielerin. Nicht jedem Menschen und nicht jedem Projekt öffnet sie sich bereitwillig. Es brauchte mehrere Anläufe, um sie für das Benefizprogramm zur Restaurierung der historischen Bühnenprospekte aus der Herzogszeit nach Meiningen zu holen. Aber als sie im letzten Jahr mit dem Ensemble des Deutschen Theaters bei Tschechows "Möwe" auf der Meininger Bühne stand, war sie elektrisiert. Da hatte sie die Berührung empfunden, die sie braucht für ihre Arbeit. An jeder Silbe ihres Programms lässt sich diese Berührung ablesen. Auch der Kampf, den es Corinna Harfouch gekostet hat, die Biografie dieser Frau zu verarbeiten. Ihre Gedankenwelt zu verstehen. In ihr Leben zu blicken.

Im Grunde "zu alt"

Melancholie. Bedrückung. So wirken Texte und Textfetzen, die sie vorträgt. Man sieht die Bewegung, die Corinna Harfouch in diesem Moment auf der Bühne erfasst. Wie sie die Brille nimmt und wieder weglegt. Wie sie den einen Text plötzlich spielt, und den anderen in höchster Erregung mit dem richtigen Tonfall auszustatten versucht. Plötzlich klatscht ihre Hand so unvermittelt auf den Tisch, dass sogar Hannes Gwisdek zurückschreckt. "Husten Sie erst mal", fordert sie das Publikum auf. Das klingt böse, doch ihr Gesicht lächelt. Sie will es noch einmal versuchen. Und dann schweben die Gedanken Else Lasker-Schülers in die Stille. Es ist wohl das, was man eine Berührung nennt.

"Glauben Sie mir, es ist sehr viel trauriger", sagt Corinna Harfouch über das Leben der deutsch-jüdischen Dichterin. Und erzählt, wie sie einmal geträumt habe, die Dichterin hätte an ihre Tür geklopft. "Ich glaube", sagt Corinna Harfouch, "ich hätte sie nicht herein gelassen." Denn wahr sei auch: Man habe sie nicht ertragen können.

In der fünften Klasse spielt Corinna Harfouch Pioniertheater. Der erste Anlauf zum Schauspielberuf scheitert. Den zweiten macht sie, als sie 23 Jahre alt ist. "Im Grunde zu alt", sagt sie heute. Aber sie beißt sich durch. Bis zur Ernst-Busch-Schule nach Berlin. Beim Blick zurück, auf die frühen Jahre ihres Berufs, zeichnet sie spürbar Distanz. "Ich kann noch keine richtige Gnade dafür aufbringen", sagt sie in Meiningen. Sie lehnt eine Meisterklasse bei Hans-Peter Minetti ab, geht lieber nach Karl-Marx-Stadt ans Theater, wird später von Heiner Müller wieder nach Berlin geholt. Daraus will sie heute keine politische Heldentat konstruiert wissen. "Ich habe einfach nur gespürt, dass ich das nicht will." Sie erzählt, wie sie 1989, nachts, in Cannes Plakate für "Treffen in Travers" geklebt hat. Sie will Werbung für den Film machen, während die Defa-Leute in Cannes im Dauersuff waren. Sie erzählt, dass sie noch nie eine Folge von "Unser Lehrer Dr. Specht" gesehen hat. Diese Serie drehte sie 1991, nachdem sie bei Thomas Langhoff am Deutschen Theater gekündigt hatte.

Es sind Episoden, die man erzählt, wenn man öffentlich über das eigene Leben spricht. Episoden, die für Corinna Harfouch schon weit weg scheinen. Ein Vierteljahrhundert und mehr. Sie sagt, dass sie das Gefühl von Wehmut nicht kenne. Sie schaut nach vorn. Aber sie weiß, wo sie herkommt: "Ich bin dankbar auch für die Dinge, die nicht so gut gelaufen sind." Da ist kein Groll - wie schön! Wer sich wundert, dass dieses Gespräch - anders als bei "Meiningen präsentiert" üblich - nicht aufgezeichnet und bei MDR-Figaro gesendet wird - der weiß am Ende dieses Meininger Gastspiels auch, warum: Corinna Harfouch ist zu bescheiden, um in einem kleinen Gespräch mit ihr die Bedeutung einer Radiosendung zu erkennen.