Es legt sich eine "Symphonie" über Deutschland. Ein Land, das nach dem Ersten Weltkrieg in Trümmern liegt. Als in der Weimarer Republik die erste demokratische Regierung im Deutschen Reich noch in ihren Kinderschuhen steckt, erscheint eines der bahnbrechendsten Werke der deutschsprachigen Lyrik. Vor 100 Jahren veröffentlicht der Buchlektor Kurt Pinthus mit der Gedichtsammlung "Menschheitsdämmerung" und ihrem pathetischen Untertitel "Symphonie jüngster Dichtung" Werke von 23 Autoren, die damals zum Teil bereits zu den großen Namen der deutschen Gegenwartslyrik gehören - darunter Georg Trakl, Franz Werfel, Georg Heym, Gottfried Benn und (als einzige Frau) Else Lasker-Schüler.

"Für die Zeit des Expressionismus von 1910 bis 1920 ist das eine zentrale Dokumentation", sagt der Marburger Literaturprofessor Thomas Anz. Mit dem Erscheinen bildet "Menschheitsdämmerung" Höhe- und zugleich Schlusspunkt des expressionistischen Jahrzehnts. Zum Jubiläum ist das Werk neu aufgelegt worden. Ein Jahrhundert nach der Erstausgabe von 1920, die nach Recherchen des Rowohlt-Verlags teilweise auf 1919 zurückdatiert wurde, folgten bis 1922 drei weitere. Insgesamt wurden 20 000 Exemplare aufgelegt.

Freude am Untergang

Der Titel der Sammlung ist doppeldeutig: "Dämmerung" ist zu lesen als Untergang der Abendsonne, aber auch als Beginn eines frischen Tages. "Dieses Spiel mit apokalyptischen Fantasien von Untergang und Neuanfang ist für diese Anthologie ganz entscheidend", sagt Anz. Als erstes gibt mit "Weltende" von Jakob van Hoddis das berühmteste Gedicht des Expressionismus den Ton vor: "Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,/In allen Lüften hallt es wie Geschrei./ Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,/Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut." Das Gedicht erschien schon rund ein Jahrzehnt zuvor - also noch vor dem Ersten Weltkrieg. "Bei Jakob von Hoddis ist eine gewisse Freude dabei, dass eine Welt untergeht, nämlich die des Bürgertums", sagt Anz. "Das ist eine Art revolutionärer Neuanfang." Darin sieht der Literaturwissenschaftler eine Verbindung zur Gegenwart: "Solche apokalyptischen Fantasien kennen wir heute wieder im Zusammenhang mit der Klimadebatte."

Unter den Dichtern waren viele jüdische Autoren. Im Nationalsozialismus wurden ihre Werke als "Entartete Kunst" diffamiert. Viele gingen ins Exil, so auch Cheflektor Pinthus. Nach seiner Rückkehr aus den USA 1967 arbeitete er im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.